Das Massaker von Kendakola: Das lange Schweigen

Vor 19 Jahren verübte der türkische Staat in der südkurdischen Region Bradost ein Massaker, bei dem 42 Zivilisten, darunter elf Kinder und dreizehn Frauen getötet wurden. Zur Rechenschaft gezogen wurde für den Fassbomben-Angriff niemand.

Am 15. August 2000 verübte die türkische Armee ein Massaker in Kendakola, einem kleinen Ort in der unter dem Namen Bradost bekannten südkurdischen Region Xakurke, ein gebirgiges Gebiet im Dreiländereck zwischen der Türkei, dem Iran und dem Irak. 42 Angehörige der Stämme Bradostî und Herkî, darunter elf Kinder und dreizehn Frauen, wurden bei dem Angriff mit Fassbomben ermordet. Ein „Versehen“, wie die damalige Regierung unter Ministerpräsident Bülent Ecevit behauptete. Sowohl im Irak als auch in der Autonomieregion Kurdistan wurde das Massaker totgeschwiegen und von der Justiz nicht verfolgt. Mittlerweile sind 19 Jahre vergangen, doch die Täter müssen weiterhin keine Strafverfolgung fürchten. Das kollektive Schweigen zum Massaker von Kendakola hat den türkischen Staat dazu ermutigt, weitere Verbrechen am kurdischen Volk zu begehen. Am 21. August 2011 tötete die türkische Luftwaffe in Kortek sieben Zivilisten, darunter vier Kinder. Am 28. Dezember 2011 wurden 34 Menschen aus Roboskî im nordkurdischen Qilaban (Uludere) bei einem Bombardement der türkischen Armee zerfetzt. Die jungen Männer - 19 von ihnen waren minderjährig - deren Familien vom Grenzhandel lebten, kehrten in der Nacht aus Südkurdistan zurück, als sie bei dem Beschuss von Kampfflugzeugen ums Leben kamen. Präsident Erdoğan bedankte sich bei den Soldaten für das Massaker, zur Rechenschaft gezogen wurde wie auch in Kortek niemand.

Die Spuren des Massakers

Während sich die Spuren des Massakers, das in Kendakola verübt wurde, an den riesigen Kratern in der Erde, den gesprengten Bäumen und dem Spielzeug der getöteten Kinder ablesen lassen, sind die Bewohner*innen von Bradost wieder der Besatzungspolitik von damals und der Gefahr eines neuen Massakers ausgesetzt. Die am 27. Mai von der türkischen Armee in der Region begonnene völkerrechtswidrige „Operation Kralle“ hält unvermindert an. Täglich werden das Gebirge, die Hochalmen, Täler und Siedlungsgebiete von Kampfflugzeugen bombardiert.  

In der Nähe des Ortes, an dem die Fassbomben vor fast zwei Jahrzehnten einschlugen, sprechen wir mit Menschen, die damals ihre Angehörigen und Verwandten verloren haben. Einer von ihnen ist Qeysî Xidir Reşo, ein Zeuge des Massakers. Er erzählt uns, dass Kendakola auch heute noch immer wieder von türkischen Kampfflugzeugen angegriffen wird. Die Gefahr eines weiteren Massakers ist nicht auszuschließen.


„In diesem Jahr sind wir einer großen Bedrohung ausgesetzt. Die türkischen Truppen halten bereits unsere Ländereien und Hochalmen besetzt. Es ist uns kaum möglich, Weideflächen für unsere Schafe zu finden. Hinzu kommen Luft- und Artillerieangriffe. Wir wollen, dass sich die türkische Armee so schnell wie möglich aus unserem Land zurückzieht. Ich appelliere an die Regierungen Südkurdistans und des Iraks: Sie sollen ihre Beteiligung an der Besatzung einstellen. Es geht nicht darum, gegen die PKK zu kämpfen. Das Ziel dieser Operation ist die Besatzung von Kurdistan. Vor 19 Jahren wurden hier 42 Frauen, Männer und Kinder von Flugzeugen zerfetzt. Jetzt wollen sie das Gleiche noch einmal tun.

„Wir werden unsere Heimat nicht verlassen“

Sie wollen uns unserer Heimat entreißen. Mein Haus wurde schon 1994 bombardiert, trotzdem bin ich geblieben. Auch im Jahr 2011 griffen sie an. Mein Cousin Celal – er war verheiratet – wurde getötet. Unsere Kinder erleben ein Trauma nach dem anderen. Unser Lebensraum ist einer großen Gefahr ausgesetzt. Seit drei Jahrzehnten geht das nun schon so. Wann hört es endlich auf? Sie sollen aus unserem Land verschwinden, und zwar so schnell wie möglich.“

„Das Schweigen ist unbegreiflich“

Kurdo, der beim Kendakola-Massaker ebenfalls mehrere Verwandte verloren hat, schließt sich den Worten von Reşo an. Die Gefahr sei nicht gebannt, es könne jederzeit zu einem Verbrechen ähnlichen Ausmaßes kommen, sagt er.

„Das Schweigen der südkurdischen Regionalregierung angesichts der Geschehnisse hier ist einfach unbegreiflich. Wir durchlaufen eine ökonomische Krise, können nicht in die Hochalmen ziehen, unsere Tiere werden bei den Angriffen türkischer Kampfbomber getötet. Sie wollen, dass wir unsere Heimat verlassen. Warum sollen wir gehen? Der türkische Staat ist doch in unsere Berge eingedrungen. Er ist es, der gehen muss“, fordert Kurdo.

„Weil keine Rechenschaft verlangt wurde…“

Kumri Xelef hat beim Massaker von Kendakola ihren Sohn, dessen Frau und zwei Enkelkinder verloren. Sie glaubt, dass das kollektive Schweigen der internationalen Kräfte und insbesondere das der politischen Führung in Südkurdistan dem türkischen Staat weiterhin eine Grundlage bietet, die Region anzugreifen: „Weil die Täter von damals nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, halten die Angriffe noch immer an. Unsere Kinder wachsen unter Bomben auf. Xakurke ist aber unser angestammtes Land. Nicht wir werden gehen, sondern die Besatzer. Man hat mir vier meiner Familienmitglieder genommen, doch jeder sollte wissen, dass wir uns den Unterdrückern nicht beugen werden. Möge Gott der Guerilla, die heute in Xakurke kämpft und unsere Heimat mit ihrem Leben und ihrem Blut verteidigt, Kraft geben.”