Bayik: Stellt keine Erwartungen an den Staat

Dass der türkische Staat bei seinem Vernichtungsfeldzug in Kurdistan speziell auf Frauen, Jugendliche, Kinder und die Natur abzielt, hat einen Grund. Sie stellen die Zukunft des kurdischen Volkes dar.

Interview mit Cemil Bayik (KCK)

Cemil Bayik, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), hat sich im ANF-Interview zur Rolle der Jugend in der kurdischen Freiheitsbewegung und den Gegenstrategien des türkischen Staates geäußert. In Nordkurdistan wird eine Politik der besonderen Kriegsführung betrieben, die sich vor allem gegen Frauen, Jugendliche und sogar Kinder richtet. Ein weiteres Element des staatlichen Vernichtungsfeldzugs ist die maßlose Naturzerstörung in Kurdistan. Bayik ruft für die Verteidigung des Lebens in Kurdistan zu mehr Eigeninitiative auf.


Die Jugend der apoistischen Bewegung hat in Nordkurdistan, Rojava und im Ausland eine Vorreiterrolle übernommen und wichtige Ergebnisse erzielt. Sie hat den Newroz-Feiern, den Kommunalwahlen in Nordkurdistan und der Türkei und zuletzt dem Aufstand in Wan ihren Stempel aufgedrückt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage der Jugend?

Die kurdische Jugend ist nicht wie die Jugend in anderen Ländern. Das kurdische Volk befindet sich zwischen Leben und Tod. Deshalb können die jungen Menschen nicht wie die Kinder anderer Völker leben, sie können nicht in dem Rahmen leben, den ein System entwickelt hat, das ihnen keinen anderen Weg als den Tod bietet. Sie müssen völlig außerhalb dieses Systems leben. Auf diese Weise können sie das kurdische Volk anführen und es am Leben erhalten. Es wird eine Politik des Völkermords am kurdischen Volk betrieben. Es ist insbesondere die Aufgabe der Jugend, sich vor allen anderen gegen diese Politik zu stellen. Denn die Jugend bestimmt die Zukunft eines Volkes. Wenn die Jugend das kurdische Volk am Leben erhalten will, muss sie vorangehen. Nur so kann sie sich und ihre Gesellschaft am Leben erhalten.

Wir sind eine Jugendbewegung“

Wir sind eine Jugendbewegung. Wie Rêber Apo [Abdullah Öcalan] einmal sagte: „Wir haben jung angefangen, wir werden jung Erfolg haben“. Die Jugend des kurdischen Volkes sollte sich an diesem Slogan orientieren. Er bezeichnet die Geschichte und Kämpfe dieser Bewegung. Die kurdische Jugend wird niemals ihre Geschichte oder ihr Ziel aufgeben. Was von ihnen verlangt wird, ist, auf der Grundlage ihrer Geschichte zu kämpfen. Die kurdischen Jugendlichen müssen mit revolutionärem Geist handeln. Sie dürfen die verschiedenen Hindernisse nicht akzeptieren, die ihnen vom Staat, von Verrätern oder sogar von ihren eigenen Familien in den Weg gelegt werden.

Ich appelliere daher an alle Familien: Die Liebe zu unserem Land verlangt von uns, dass wir uns um uns selbst, unser Land und unsere Kinder kümmern und uns gegen den Feind stellen. Es ist nicht richtig, dass Eltern ein Hindernis für ihre Kinder darstellen und sie in ein System lenken, das sie physisch oder kulturell umbringen wird. Das Regime will das kurdische Volk vernichten und fängt damit bei der Jugend an. Es lenkt die Jugend auf schlechte Wege. Der Gouverneur von Sêrt sagte beispielsweise: „Sollen sie sich doch prostituieren, anstatt sich der Guerilla anzuschließen.“ Das ist etwas, was er offen erklärt hat. Und genau das ist die Politik des türkischen Staates, denn er will das kurdische Volk vernichten.

Klärt eure Kinder über die kurdische Realität auf“

Wenn er die Jugend eliminiert, wird er auch die kurdische Gesellschaft eliminieren können. Wenn die Jugendlichen ihre Aufgaben für ihr Volk und ihr Land nicht erfüllen, wenn sie sich nicht am Kampf beteiligen und sich nicht gegen die Besatzung und Assimilierung stellen, lenkt der Staat sie in eine falsche Richtung. Anstatt ihren Kindern den Weg in die Freiheit zu zeigen, zeigen die Familien ihnen den Weg ins System. Das System eliminiert diese Menschen. Deshalb appelliere ich an alle Eltern: Nähert euch euren Kindern nicht auf diese Weise, sondern kümmert euch um sie. Klärt eure Kinder über die kurdische Realität auf. Lasst nicht zu, dass sie zum Werkzeug der Politik des Feindes werden. Haltet sie von der Politik der Drogen, der Spionage, der Prostitution, der Migration und der Assimilation fern.

Die jungen Menschen leben unter dem Druck des türkischen Staates. Der Staat setzt ihnen eine andere Kultur vor: die arabeske Kultur. Mit dieser Kultur tötet er die Seele der Jugend vollständig ab. Die kurdische Jugend darf das nicht akzeptieren. Vor allem die apoistische Jugend muss sich dem entgegenstellen, sie muss dagegen kämpfen, sie muss für sich und ihr Volk eintreten und ihre historischen Aufgaben erfüllen. Das ist es, was wir von ihnen wollen. Sie sollen kämpfen, wo immer sie sind, und sich der Guerilla anschließen. Sie sollen ihre Bekannten organisieren und gemeinsam Aktionen durchführen. So ist diese Bewegung entstanden und hat sich entwickelt. Darauf sollte die Jugend dieser Bewegung aufbauen.

Wie Sie bereits erwähnt haben, wird in Nordkurdistan eine Politik der besonderen Kriegsführung betrieben, die sich vor allem gegen kurdische Frauen, Jugendliche und sogar Kinder richtet. Dagegen versucht sich die Jugend zu wehren. Was sollte und kann Ihrer Meinung nach gegen diese Form der Sonderkriegsführung getan werden?

Wenn sich der türkische Staat so sehr auf Frauen, Jugendliche und Kinder konzentriert, hat das einen Grund. Sie stellen die Zukunft des kurdischen Volkes dar. Ein weiterer Grund ist, dass Rêber Apo sowohl die Jugend als auch die Frauen zu Pionieren des Volkes erklärt hat. Der faschistische türkische Staat will das kurdische Volk und Kurdistan vernichten, alles Kurdische soll ausgelöscht werden. Das ist die Grundlage seiner Politik. Um dieses Ziel zu erreichen, zielt er auf Frauen, Jugendliche und Kinder ab. Jeden Tag tötet der Staat irgendwo Kinder. Das tun er nicht in der Türkei, sondern nur in Kurdistan. Es ist ein klarer Beweis für die Feindschaft gegenüber den Kurdinnen und Kurden. Der Staat lässt die Kinder nicht einmal auf der Straße spielen oder sich bewegen, sie werden mit Panzerwagen verfolgt. Er will alle kurdischen Kinder in Angst und Schrecken versetzen. Auf diese Weise will er das kurdische Volk ausrotten. Mit arabesker Kultur, Drogen, Prostitution, Agenten, Flucht und Assimilation will er junge Menschen und Frauen ihrer Seele berauben, sie von ihrer Realität und ihrem Kampf ablenken und dafür sorgen, dass sie sich nicht um sich selbst und ihr Land kümmern.

Eliminierung der kurdischen Sprache, Kultur und Identität

Deshalb betreibt der türkische Staat in den Schulen, auf den Straßen und überall eine spezielle Kriegspolitik. Dafür werden sogar Fernsehserien produziert. Die Szenarien vieler dieser Serien enthalten Botschaften gegen die kurdische Gesellschaft, die kurdischen Frauen und die kurdische Jugend. Mit diesen Serien soll das Türkentum gefördert werden. Sie zielen darauf ab, die kurdische Bevölkerung von ihren Wurzeln, ihrem Land und ihrer Menschlichkeit zu entfremden und sie in den Dienst des türkischen Staates zu stellen. Es werden Festivals veranstaltet, um die türkische Sprache, Kultur und Geschichte als überlegen darzustellen. Was der kurdischen Sache dient, wird eliminiert und verboten. Der Staat lässt nicht zu, dass sich das kurdische Theater, die kurdische Musik und die kurdischen Sprachen entwickeln. Er tut alles, um die kurdische Sprache, Kultur und Identität zu eliminieren. Und er kennt dabei keine Grenzen.

Vor allem Frauen und Jugendliche müssen für sich, ihr Land und ihre Gesellschaft eintreten. Sie müssen aufstehen und auf allen Ebenen gegen die Besatzung und den Völkermord kämpfen. Sie müssen ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Identität, ihr Land und alles andere schützen. Sie müssen ihr Volk anführen. Sie müssen sich gegen die Politik des türkischen Staates stellen und das Volk aufklären und organisieren, damit es sich verteidigen kann und seine Freiheit und Identität erlangt. Das ist es, was von ihnen verlangt wird.

Angriff auf die Ökologie und Geographie

Ökologie ist ein Grundpfeiler Ihres Paradigmas. Die Feindschaft gegen Kurdistan zeigt sich am deutlichsten in der staatlich gelenkten ökologischen und natürlichen Plünderung. Was ist der Grund dafür, dass der türkische Staat die Ökologie so massiv angreift?

Der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft ist nur durch die Freiheit der Frauen und ein Bewusstsein des ideologischen Kampfes möglich. Wenn man die Frauen und die Ökologie nicht als Grundlage nimmt und das Bewusstsein, die Organisation und den Kampf nicht weiterentwickelt, kann man keine demokratische Gesellschaft aufbauen und das Ziel Freiheit und Demokratie nicht erreichen. Der Wert der Natur ist in der kurdischen Kultur und Gesellschaft verankert. Die Menschen leben und kämpfen mit der Natur. Die Natur als Grundlage zu nehmen bedeutet, das Leben und die Freiheit als Grundlage zu nehmen. Wer die Natur nicht als Grundlage nimmt und sie nicht schützt, kann nicht leben und nicht befreit werden. Der türkische Staat plündert die Natur Kurdistans grenzenlos aus und beseitigt ihre Lebensgrundlagen. Er zerstört die kurdische Geographie, indem er überall Bergwerke errichtet, Wälder abbrennt, Bäume fällt und viele Orte mit Staudämmen überflutet. In Riha und Mêrdîn wird der Strom abgestellt, um die Landwirtschaft zu behindern. Auf diese Weise zielt der Staat darauf ab, die Menschen zu vertreiben und die Demografie Kurdistans zu verändern.

Naturschutz ist Selbstverteidigung

Alle wissen zum Beispiel, was in Licik passiert ist. Şirnex, Gabar, Colemêrg und Dersim werden grenzenlos geplündert. In Colemerg, in dem Dorf Marinos, haben sich die Menschen gegen die Plünderung gewehrt. Ich gratuliere ihnen. Unser Volk muss überall sein Land, seine Geografie, seine Werte und sein Leben schützen, so wie die Menschen im Dorf Marinos. Sie sollten die Plünderung durch die Besatzer nicht zulassen. Es werden bereits einige Schritte unternommen, aber sie sind sehr unzureichend. Überall muss eine stärkere Reaktion gezeigt werden, alle sollten ihr Leben und ihre Zukunft verteidigen. Der Staat zerstört systematisch die Lebensgrundlagen des kurdischen Volkes. Wenn er zum Beispiel Mineralien abbaut, verwendet er Gift. Das Wasser wird verseucht, das Klima verändert sich, die Menschen können keinen Ackerbau betreiben, die Bäume vertrocknen, und das Leben und die Psyche der Menschen werden stark beeinträchtigt. Wenn man kein Bewusstsein für den ideologischen Kampf entwickelt und sich nicht organisiert, kann man weder Plünderung noch Völkermord verhindern. Der türkische Staat will Kurdistan zu seiner eigenen Heimat machen, und dafür will er das kurdische Volk vernichten. Das kurdische Volk muss sein Wasser, sein Land und seine Region schützen. Das bedeutet, sich selbst und seine Freiheit zu verteidigen.

Ihr könnt nicht in Kurdistan leben und eine solche Zerstörung einfach hinnehmen. Wenn ihr leben wollt, dann lebt in eurem Land und verteidigt eure Geographie. Lasst nicht zu, dass der Feind die Natur ausplündert. Hindert ihn daran, eure Lebensgrundlagen zu zerstören. Das kurdische Volk lebt mit seiner Geographie. Wenn man sie ihm wegnimmt, kann es nicht überleben. Es heißt, dass Şirnex die schlechteste Luftqualität in der Türkei hat. Warum ist das so? Der Staat hat die Wälder zerstört und keinen Baum stehenlassen. Das Land wird mit Ölraffinerien verschmutzt.

Chauvinistische Rechtfertigungen

Der türkische Staat verfolgt eine Politik, die darauf abzielt, den Raubbau in Kurdistan zu rechtfertigen. Er behauptet, die PKK verhindere den Abbau von Bodenschätzen und werde dabei unterstützt von Staaten, die nicht wollen, dass die Türkei gedeiht und sich entwickelt. Mit dieser Propaganda soll die Gesellschaft der Türkei gegen die PKK und das kurdische Volk aufgehetzt werden. Auf diese Weise sollen der Völkermord am kurdischen Volk und die Angriffe auf die PKK legitimiert werden. Der Staat will die Unterstützung der Völker der Türkei gewinnen und den Chauvinismus stärken. Die Menschen in der Türkei müssen das verstehen. Hunger und Armut nehmen zu, die Lage ist sehr ernst. Sie ist das Ergebnis der Politik des türkischen Staates gegen das kurdische Volk. Mit Plünderung und Krieg kann der Staat der Gesellschaft nichts geben. Die Völker der Türkei müssen sich dessen bewusst sein. Das Bewusstsein nimmt zu, aber es sollte schneller gehen. Wenn die Menschen den Hunger loswerden wollen, ist der Ausweg, sich der Politik des türkischen Staates gegen die Kurdinnen und Kurden zu widersetzen. Dann werden Hunger und Armut überwunden sein.

Keine Forderungen an den Staat stellen

Um die Ausplünderung der Natur zu verschleiern, will der türkische Staat ökologische Bewegungen auf seine Linie bringen. Auf diesem Gebiet unternimmt er viel. Niemand sollte in diese Falle tappen. Niemand sollte erwarten, dass der Staat gegen Prostitution, Drogen, Spionage, Migration und Hunger vorgeht, denn diese Missstände gehen vom Staat aus. Er betreibt diese Politik, um sowohl die Kurden zu eliminieren als auch die Gesellschaft der Türkei mit Gewalt an sich zu binden. Niemand sollte sagen, dass der Staat gegen diese Dinge vorgehen sollte, denn es ist der Staat selbst, der sie vorantreibt.

Es gibt Leute, die Forderungen an den Staat stellen und sagen: „Der Staat soll dies und jenes tun und diese und jene Maßnahme ergreifen.“ Solche Äußerungen sind beschämend und peinlich, vor allem für Kurdinnen und Kurden. Sie haben von einem solchen Staat nichts zu verlangen und nichts zu erwarten. Dieser Staat tötet jeden Tag Kurdinnen und Kurden; er versucht, das kurdische Volk auszulöschen. Wie kann ein Kurde von einem solchen Staat etwas verlangen? Die Kurdinnen und Kurden sollten selbst für das kämpfen, was sie brauchen. Was auch immer sie erreichen, werden sie durch ihren eigenen Kampf erreichen. Das ist die Wahrheit. Deshalb sollten sie nichts vom Staat verlangen. Sie sollten den Staat nicht darum bitten, Prostitution und andere Übel zu unterbinden, weil der Staat diese Politik in Kurdistan bewusst betreibt.