Bawer Erûh: „Das neue Leben wird durch Jineolojî erbaut“
Der HPG-Kämpfer Bawer Erûh spricht über die Bedeutung der Jineolojî und beschreibt die Frauenwissenschaft als effektive Methode zur Überwindung der kapitalistischen Moderne.
Der HPG-Kämpfer Bawer Erûh spricht über die Bedeutung der Jineolojî und beschreibt die Frauenwissenschaft als effektive Methode zur Überwindung der kapitalistischen Moderne.
Die kurdische Frauenfreiheitsbewegung hat auf der Grundlage des Paradigmas von Abdullah Öcalan, der das Patriarchat als gesellschaftlichen Hauptwiderspruch beschreibt, einen eigenständigen Ansatz von Gesellschaftsanalyse, die Jineolojî, entwickelt. Nicht nur in der Frauenbewegung und der kurdischen Freiheitsbewegung generell, sondern vor allem auch in der Guerilla setzen sich die Kämpfer*innen intensiv mit diesem Ansatz auseinander. Im ANF-Gespräch spricht der HPG-Kämpfer Bawer Erûh über seine Perspektive auf die Jineolojî.
Erûh sieht in der Jineolojî das Potential, eine „Alternative zu 5.000 Jahren Patriarchat“ aufzubauen. Er führt in Bezug auf die neolithische Revolution aus: „Im fruchtbaren Halbmond, insbesondere in Mesopotamien, fand die wichtigste und wertvollste Revolution in der Menschheitsgeschichte statt. In dieser Revolution ging es um eine Lebensform, in der alle vor der Muttergöttin gleich waren. Die Menschen lebten unter dem Gedanken ‚Wir sind eins und das eine ist für uns alle‘, sie hielten in guten wie in schlechten Zeiten zusammen. Das war das offensichtlichste Beispiel dafür, wie intensiv die moralische und politische Gesellschaft gelebt wurde. Wir können in der Fruchtbarkeit der Muttergöttin, dem Aufziehen der Kinder, der Landwirtschaft und Viehzucht die ersten Formen dieser zum Nutzen der Gesellschaft um das Dorf herum gemachten Erfahrungen basierenden Wissenschaft beobachten. Insbesondere die Geburt und das Aufziehen von Kindern fordern sowohl Arbeit als auch Erfahrung. Auch die Kräuterkunde und die damit zusammenhängende Fähigkeit, Krankheiten zu heilen, zeigt, dass eine Grundlage von Wissenschaft, in diesem Zusammenhang der Medizin, geschaffen wurde.“
„Die Konterrevolution des Patriarchats“
Erûh beschreibt den gewaltförmigen Übergang von dieser matrizentrischen Gesellschaft hin zum Patriarchat. Der Mann habe durch die Jagd eine Art kurzfristiger „Schläue“ entwickelt, die von den alten Männern als Machtmittel benutzt wurde: „Der ‚schlaue Mann‘, der Priester und Schamane stellten sich gegen das seit Jahrtausenden bestehende freie Leben und begannen eine Konterrevolution. Das aufkommende Patriarchat verschlang die Gesellschaft und ihre Werte wie ein Ungeheuer. Der Zikkurat als in Form gegossenes Patriarchat der Warlords, Schamanen und Priester, wurde zu einer Ideologie und schuf das Bild des Gottkönigs. Währenddessen wurde der Frau die Prostitution zugewiesen, um das jahrtausendealte Verständnis vom heiligen, freien Frauenleben unter der Führung der Muttergottheit zu zerschlagen. Die Wissenschaft, die bis dahin mit der Frau verbunden war, geriet mit dem Zikkurat unter die Kontrolle des Mannes und in den Dienst des Gottkönigs. Die Arbeit und Erfahrung der Mutter-Frau, die die Grundlage aller Wissenschaften bildet, wurde nun missachtet und ignoriert. Diese Wissenschaft baute auf Raub und Plünderung auf. Das Wort vom ‚Fachmann‘ [im türkischen bilim adam – Wissenschaftsmann für Wissenschaftler*in] ist hierfür das konkreteste Beispiel. Die im Leben, der Politik, der Wirtschaft und der Kultur erfolgreiche Frau wurde verdrängt, ignoriert oder bestraft. Dies zeigt, wie wenig die Präsenz von Frauen ertragen wurden. Mit der Durchsetzung der männlichen Codes beginnt die Vernichtung der Frau.“
„Frauen schritten unter Mühen und Opfern voran“
Erûh weist darauf hin, dass Frauen trotz der Verdrängung durch die Männer größte kreative Leistungen für die Gesellschaft erbrachten. Er führt die Vordenkerin der Informatik, Ada Lovelace, und andere für die Wissenschaft prägende Frauen an. Er erklärt: „Die Frauen schritten unter Mühen und Opfern voran. Olympe de Gouges wurde auf die Guillotine gelegt. Die Philosophin Helene von Druskowitz wurde im 19. Jahrhundert 27 Jahre in eine Irrenanstalt gesperrt. Tausende Frauen, die sich mit Wissenschaft beschäftigten, wurden unter dem Vorwand der ‚Hexenverfolgung‘ verbrannt oder ertränkt. Aus der Asche dieser freien Frauen ist ohne Zweifel erneut die Suche nach einem freien Leben erstanden. So wie sich Männlichkeit durch die verschiedenen Formen von Herrschaft ausdrückt, so basiert ihre 5.000-jährige Geschichte auf Unterdrückung, Plünderung und Raub. Diese Perspektive lässt sich zu Hause, am Arbeitsplatz, auf dem Land, in der Stadt und sogar in vielen revolutionären Bewegungen feststellen. Die patriarchale Haltung hat sich in jedem Bereich festgesetzt. Manchmal können wir sie in der Mimik, in Bewegungen, manchmal in Worten oder Haltungen wiederfinden. Wir sehen sie in unserem täglichen Leben, im Fernsehen und in uns selbst, in was für einen Geisteszustand dieses in Jahrtausenden ausgefeilte Patriarchat den Mann gebracht hat.“
„Die Utopie vom Paradies“
Der Guerillakämpfer sieht in der Jinolojî die Chance, dieses Herrschaftsverhältnis zu überwinden, die Versklavung der Frau zu zerschlagen und mit der freien Frau freie Männer und eine freie Gesellschaft zu schaffen. Er schließt mit den Worten: „Das Patriarchat kann überwunden und eine Gesellschaft aufgebaut werden, in der alle Menschen mit ihren individuellen Eigenschaften und Kulturen frei leben können, auf den Straßen, in den Parks und allen Lebensbereichen diskutieren und sich als freie Individuen verständigen können. Die Jineolojî kann die Menschheit und den Planeten unter der Führung der Frau aus der von den Lügen des religiösen Fundamentalismus, des Nationalismus und des Sexismus herbeigeführten Katastrophe führen und die Utopie der Menschheit, den Himmel auf Erden, Wahrheit werden lassen.“