Die Tabakbauern in Nordkurdistan sind wütend. Zu Tausenden strömen sie seit Tagen auf die Straßen, blockieren zentrale Verkehrswege in den Provinzen Meletî (tr. Malatya) und Semsûr (Adıyaman) und organisieren Proteste. Hintergrund ist eine am 1. Juli in Kraft getretene Regelung des Schmuggelbekämpfungsgesetzes Nr. 5607, durch die der Tabakanbau und -verkauf unter die Zulassungspflicht fallen. Tabakbauern und Händler, die sich keine Lizenz beim türkischen Ministerium für Land- und Forstwirtschaft einholen, werden mit Haftstrafen von mindestens drei bis maximal sechs Jahren und Geldstrafen zwischen 5.000 und 50.000 TL belegt. Liegt die Befugnis vor, darf der Tabak zwar legal angebaut werden, die Ware frei auf dem Markt handeln dürfen die Bauern aber trotzdem nicht. Der Verkauf bleibt abhängig von der Mitgliedschaft bei einer Genossenschaft, die aus mindestens 250 Mitgliedern bestehen muss.
An eine Kooperativproduktion als Mittel gegen Preisspekulation glaubt in Meletî und Semsûr allerdings niemand. Vermutlich müssen die Bauern ihren Tabak dann noch an eine vom Staat vorgegebene Liste lizensierter, privater Aufkäufer veräußern, die das System Genossenschaft à la Ankara zum Preisdumping ausnutzen. Die Tabakbauern wittern hinter der bereits 2017 beschlossenen aber bis dato nur schrittweise umgesetzten Verordnung ohnehin seit Jahren, dass internationale Tabakkonzerne wie Philip Morris und Japan Tobacco Druck auf die Regierung ausüben. Wegen der hohen Tabaksteuer in der Türkei (63 Prozent pro Schachtel) steigen immer mehr Menschen auf Drehtabak um. Für die Industrie fallen Gewinneinbußen an. Warum sonst sollen die Bauern des einheimischen Tabaks am ausgestreckten Arm verhungern, fragen sich viele.
Seit Jahrhunderten wird in Meletî und Semsûr Tabak angebaut. Rund 450.000 Menschen in den beiden Provinzen leben vom Tabakanbau, der eine eigene Kulturlandschaft mit uralten Traditionen bildet, und dem Verkauf. Die großen Zeiten des „kurdischen Goldes“ sind aber längst vorbei. Etliche Dörfer haben in den letzten Jahren nach und nach ihre Lebensgrundlage verloren, weil immer mehr gesetzliche Einschränkungen eingeführt wurden. Hinzu kommt, dass die Tabakbauern in der Region trotz Umstellung von Trockenfeldbau auf Bewässerungslandwirtschaft von der Bewässerung über Staudämme nicht profitieren.
Straßenblockade am 5. Juli in Semsûr
„Bis vor einigen Jahren noch hatten Zehntausende Familien ihr bescheidenes Auskommen mit dem Tabak. Sie haben ihre Kinder damit großgezogen, ihre Schulausbildung finanziert und ihre Hochzeiten ausgerichtet. Seit langem wächst von Jahr zu Jahr die Sorge, auf der Ernte sitzen zu bleiben. Mit der neuen Gesetzesregelung werden Dumpingpreise eingeführt, von denen wir immer weniger existieren können. Eine andere Alternative haben wir aber nicht”, sagt Mehmet Efe Dindar. Der Tabakbauer aus der Gemeinde Sûrgî (Sürgü) im Kreis Muhacîr (Doğanşehir) bei Meletî hat sich mit seiner Maxime „Nein zu kapitalistischen Nutznießern” (Tirşikçî) zum Sprachrohr des Aufstands entwickelt. „Menschen, die nicht die Fähigkeit haben, zu führen, versuchen uns zu regieren. Es ist ein Tiefpunkt der politischen Inkompetenz, an dem wir hier gerade stehen. Man gibt Eselsreitern eben kein Flugzeug. Tut man es doch, verliert die Maschine an Höhe und stürzt irgendwann ab.“
„Es ist nur die Parole eines unterdrückten Proletariers” Mehmet Efe Dindar
Für Dindar steht außer Frage, dass hinter der neuen Verordnung die Interessen der ausländischen Tabakindustrie stecken. Bleibt es dabei, wären zehntausende Menschen gezwungen, ihre Dörfer Richtung Großstadt zu verlassen. „Dort müssten wir dann von Hungerlöhnen leben. Aber durch diese Regelung, die uns die einzige aber vor allem traditionelle Lebensgrundlage raubt, sollen wir ohnehin durch Aushungerung dressiert werden.” Dindar und die anderen Tabakbauern wollen die Proteste noch eindringlicher gestalten und ihren zivilen Ungehorsam ausweiten, bis das Gesetz zurückgenommen wird. „Wir werden für unser Überleben und gegen die kapitalistischen Nutznießer kämpfen – komme was wolle.”