Kriminalisierung kultureller Ausdrucksformen
Fünf kurdische Aktivist:innen und Politiker:innen, darunter die ehemalige Doppelspitze der DEM-Partei in Dersim (tr. Tunceli), sind wegen des Singens von kurdischen Liedern während einer politischen Veranstaltung zu jeweils zehn Monaten Haft verurteilt worden. Die Strafe wurde unter Vorbehalt ausgesprochen. Die Bewährung läuft auf mehrere Jahre.
Die Betroffenen, unter ihnen auch die abgesetzte Ko-Bürgermeisterin von Dersim, Birsen Orhan, hatten im Februar vergangenen Jahres an einer Kundgebung anlässlich der damals stattfindenden Aktionswochen für die Freiheit des PKK-Begründers Abdullah Öcalan und eine politische Lösung für die kurdische Frage teilgenommen. Während der Veranstaltung in Dersim tanzten sie den Govend – einen traditionellen Reihentanz – und sangen die Lieder „Berxwedan xweş doz e“ und „Herne Pêş“.
Die Staatsanwaltschaft wertete die musikalische Untermalung als „Propaganda für eine Terrororganisation“ und unterstellte den Angeklagten, durch die beiden Songs „Hass und Feindseligkeit zu schüren und eine konkrete Gefahr für die öffentliche Ordnung darzustellen“. Die Verteidigung wies die Vorwürfe als „absurd“ zurück und verwies darauf, dass es sich bei den gesungenen Liedern um anonym verfasste, traditionelle Werke handele, die auf vielen öffentlichen Veranstaltungen zu hören seien. Zudem sei die angebliche Übersetzung der Texte durch die Polizei mithilfe von Google Translate falsch und aus dem Kontext gerissen erfolgt.
Das 2. Schwurgericht Tunceli blieb dennoch bei der Linie der Anklage und verurteilte alle fünf Angeklagten zu jeweils zehn Monaten Haft. Aufgrund der Anwendung einer Sonderregel im türkischen Strafrecht, der „Aufschiebung der Urteilserläuterung“, wird die Strafe für die Dauer von fünf Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Sollte in diesem Zeitraum kein weiteres Verfahren folgen, gilt die Strafe als nicht rechtskräftig gesprochen.