Mittani-Reich: Versunkene Stadt am Tigris freigelegt

Über 40 Jahre lang blieb die bronzezeitliche Stadt Kemûnê im Mosul-Stausee verschwunden. Nun konnte sie nach anhaltender Trockenheit von einem Team aus deutschen und kurdischen Archäolog:innen freigelegt werden.

Der Irak ist eines der weltweit am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder. Besonders der Süden des Landes leidet seit Jahren unter extremer Trockenheit. Dies hat zur Folge, dass der Pegel des Mosul-Stausees am Tigris immer wieder extreme Niedrigstände erreicht. Im Herbst 2018 traten dadurch im südkurdischen Kemûnê (dt. Kemmune) am Ostufer des Stausees die ersten Ruinen eines antiken Palastes zutage, den Fachleute der Archäologie auf ein Alter von rund 3.400 Jahren datierten. Schon damals legten die Funde nahe, dass es sich um Bauten des Großreichs von Mittani (ca. 1550–1350 v. Chr.) handeln könnte.

Zu Beginn des Jahres zeugten sich die Ruinen aus altorientalischer Zeit erneut. Ermöglicht wurde dies, weil seit Dezember große Mengen von Wasser aus dem Mosul-Stausee – dem wichtigsten Wasserreservoir des Irak – zu Bewässerungszwecken abgelassen wurden, um die Ernte nicht vertrocknen zu lassen. Das Auftauchen der bronzezeitlichen Stadt südwestlich von Dihok brachte die Archäologie in Zugzwang: Es galt, die einzigartigen Bauten so schnell wie möglich zu untersuchen und mögliche Funde zu bergen – bevor das Wasser des Mosul-Stausees wieder ansteigt und alles wieder versinkt.

Die archäologische Stätte von Kemûnê im ausgetrockneten Gebiet des Mosul-Stausees. © Universitäten Freiburg und Tübingen, KAO


Deshalb haben der kurdische Archäologe Hasan Ahmet Qasim, Direktor der Kurdistan Archaeology Organization (KAO), und die deutschen Archäolog:innen Ivana Puljiz (Universität Freiburg) und Peter Pfälzner (Universität Tübingen) im Januar und Februar dieses Jahres in Zusammenarbeit mit der Antikendirektion Dihok eine Rettungsgrabung in Kemûnê durchgeführt. Dabei entdeckten sie neben dem schon bekannten Palast mehrere weitere Großbauten und konnten die Mittani-Stadt kartieren.

Industrieller Komplex aus Werkstätten

Unter den Großbauten sind eine massive Befestigungsanlage mit Mauer und Türmen, ein monumentales, mehrstöckiges Magazingebäude sowie ein industrieller Komplex aus Werkstätten für die Produktion verschiedener Güter. „Das riesige Magazingebäude ist von besonderer Bedeutung, weil darin enorme Mengen an Gütern gelagert worden sein müssen, die wahrscheinlich aus der gesamten Region herbeigeschafft wurden“, erläutert Ivana Puljiz.

Archäolog:innen und Mitarbeiter:innen legen die Lehmziegelmauern der Gebäude in der antiken Stadt Kemûnê frei. © Universitäten Freiburg und Tübingen, KAO


Keramikgefäße mit über 100 Keilschriften

Eine besonders wichtige Entdeckung sind fünf Keramikgefäße, in denen ein Archiv aus über 100 Keilschrifttafeln untergebracht war. Sie datieren in die mittelassyrische Zeit, kurz nach der Erdbebenkatastrophe, die die Stadt heimgesucht hatte. Einige Tontafeln, bei denen es sich vielleicht um Briefe handelt, stecken sogar noch in ihren Umschlägen aus Ton. Von dieser Entdeckung erhoffen sich die Forschenden wichtige Aufschlüsse über das Ende der Mittani-zeitlichen Stadt und den Beginn der assyrischen Herrschaft in dieser Region. „Dass die Keilschrifttafeln aus ungebranntem Ton so viele Jahrzehnte unter Wasser überdauert haben, grenzt an ein Wunder“, sagt Peter Pfälzner.

Keramikgefäße, in denen Keilschrifttafeln aufbewahrt wurden, stehen in der Ecke eines Raumes aus der mittelassyrischen Zeit (ca. 1350-1100 v. Chr.). © Universitäten Freiburg und Tübingen, KAO


Nach Angaben der Archäolog:innen bestätigen die neuen Funde, dass es sich bei dieser Bronzezeit-Stadt um die Stadt Zaxîkû (Zachiku) handeln könnte – und damit um ein altes und überregional bedeutendes Zentrum des Mittani-Reichs. Diese Stadt wird schon vor rund 3.800 Jahren erstmals in altorientalischen Aufzeichnungen erwähnt. Sie bestand demnach sogar schon vor der Blütezeit der Mittani-Kultur und war während ihres Großreiches eine wichtige Metropole.

Die Mauern des mittani-zeitlichen Lagergebäudes sind teilweise mehrere Meter hoch erhalten. © Universitäten Freiburg und Tübingen, KAO


Erstaunlich dabei: Obwohl die Bronzezeit-Bauten tausende Jahre alt sind und mehr als 40 Jahre im Wasser des Mosul-Stausees versunken waren, sind sie relativ gut erhalten. Selbst die aus ungebrannten Lehmziegeln bestehenden Mauern sind noch weitgehend intakt. Dies habe seinen Grund darin, dass die Stadt gegen 1350 v. Chr. bei einem Erdbeben zerstört wurde und die einstürzenden oberen Teile der Mauern die Gebäude unter sich begruben, so das Forschungsteam. Dadurch blieben diese vor Wasser und Witterung geschützt.

Blick in eines der Keramikgefäße mit Keilschrifttafeln, darunter eine Tafel, die noch in ihrer ursprünglichen Tonhülle steckt. © Universitäten Freiburg und Tübingen, KAO


Ruinen sind wieder versunken

Um weitere Schäden an der bedeutenden Ruinenstätte durch den Stausee abzuwenden, haben die Archäolog:innen im Frühjahr die ausgegrabenen Gebäude im Rahmen einer umfangreichen Konservierungsmaßnahme vollständig mit enganliegender Plastikfolie umkleidet und mit Kiesschüttungen bedeckt. Dadurch sollen die Mauern aus ungebranntem Lehm und eventuelle weitere in den Ruinen noch verborgene Funde vor dem Wasser geschützt werden. Inzwischen ist der Fundort wieder vollständig überflutet.

Nachdem das Forschungsteam seine Arbeit beendet hat, wird die Ausgrabung großflächig mit Plastikfolie abgedeckt, um sie vor dem steigenden Wasser des Mosul-Stausees zu schützen. © Universitäten Freiburg und Tübingen, KAO


Kerngebiet der Mittani im heutigen Rojava

Das Großreich von Mittani kontrollierte weite Teile von Nordmesopotamien und Syrien, das Kerngebiet befand sich im heutigen Rojava. Die bisher nicht sicher lokalisierte Hauptstadt Waschukanni (ku. Waşokanî) wird in Tell Fecheriye bei Serêkaniyê (Ras al-Ain) vermutet. Der Ort befindet sich seit Oktober 2019 unter türkisch-dschihadistischer Besatzung. Kurdische Fachleute befürchten, dass die archäologische Stätte von Besatzungstruppen geplündert und zerstört werden könnte. In Efrîn war dies in nahezu allen antiken Orten geschehen.