Bus nach Bingöl – Ein fulminanter Türkei-Roman

Mit „Bus nach Bingöl“ liefert der Wiener Richard Schuberth einen fulminanten Türkei-Roman, unter dessen anfänglich gemächlichem Erzählfluss dramatische Strudel und Strömungen aufbegehren. Eine Rezension von Gérard Turbanisch.

Der Eklat um die US-Autorin Jeannine Cumming und immer aggressiver geführte Diskussionen über die sogenannte Cultural Appropriation (Kulturelle Aneignung) erzeugen bei Literaturliebhabern mittlerweile Unbehagen, wenn sich europäische, westliche, „weiße“ Autoren ihre Themen und Figuren in fremden Ländern und Kulturen suchen. Jemand, der sich um derlei Gebote nicht schert, über ein immenses kulturelles Einfühlungsvermögen verfügt und in einem Aufwasch auch gleich unseren exotisierenden, ja, kolonialen Blick mitreflektiert, ist der Wiener Autor Richard Schuberth.

Recherche über ihn offenbart ein so vielschichtiges Bild, das es erst mal schwerfällt, einen roten Faden, geschweige denn eine einheitliche Person zu finden. Essayist (Merkur, konkret, Literatur und Kritik etc.), Romancier, Drehbuchautor, Satiriker, Cartoonist, Songwriter, DJ, Kulturwissenschaftler ... Schuberth hat unter anderem ein Buch über Karl Kraus verfasst, eine Aphorismen-Sammlung (beide Klever Verlag) und einen modernen Schelmenroman (Zsolnay). Der bekannte österreichische Autor Karl-Markus Gauß meinte über ihn: „Als Essayist und Polemiker behauptet sich Schuberth konsequent gegen den intellektuellen Konformismus, der über die bekannten Dinge die bekannten Meinungen hat. Damit nicht genug weiß er, was er zu sagen hat, auch noch scharf und elegant zu formulieren.“ Versucht man eine Spur zu seinem jüngsten Roman, der ihn in die Türkei und nach Kurdistan führt, zu finden, wird man bei einem kritischen Buch über Nationalismus und Ethnizität fündig („Bevor die Völker wussten, das sie welche sind“), einem Film unter seiner Regie („Die wundersamen Abenteuer des Nasreddin Kürtler“), er scheint außerdem viel in Südosteuropa unterwegs gewesen zu sein, gründete in Wien ein Balkan-Musik-Festival, und publizierte kritische Texte zur politischen Situation in Erdoğans Türkei.

Richard Schuberth © Jana Madzigon

Sein Roman, der wie viele seiner Bücher im österreichisch-slowenischen Drava Verlag in Klagenfurt erschienen ist, führt den Politologen, Sozialarbeiter und ehemaligen Widerstandskämpfer Ahmet Arslan nach jahrzehntelangem Wiener Exil zurück in sein Heimatdorf in die Berge Ostanatoliens, nach Dersim.

Man schreibt das Jahr 2008. Arslan erkennt diese Türkei nicht wieder, eine zeitweilige Konjunktur lässt Shopping-Center ebenso wie Pilze aus dem Boden schießen wie Moscheen, und nicht selten sind beide in einem Konsumkomplex vereint, die AKP-Regierung Erdoğans räumt mit dem vorherrschenden Kemalismus auf und macht ethnischen Minderheiten, auch den Kurden, Angebote. Ahmet Arslan traut dieser „Wohlfühl-Türkei“ nicht über den Weg.

Die Fahrt im Überlandbus bringt Menschen zusammen, die in ihrer Imkompatibilität sehr plastisch die Widersprüche dieser Gesellschaft konturieren: der Rekrut auf seinem Weg zur „Terroristenbekämpfung“, ein deutscher Reiseschriftsteller in Sinnkrise und Suizidgefahr (er wird am Schluss noch einen burlesken Auftritt haben), die selbstbewusste Upper-Class-Istanbulerin, die ihren Flug versäumte und sich nun im Bus über „Bauern“ und „Kopftuchweiber“ echauffiert, das Mädchen vom Land auf dem Heimweg von der Abtreibung und die psychopathische neureligiöse AKP-Aktivistin, die sich auf dieses stürzt wie auf eine Beute. Zwischen den beiden entwickelt sich ein ungemein spannendes Psychoduell, wie ein Film innerhalb des Romans. Im Kofferraum reist auch eine tote Frau im Sarg mit, die in einem Kapitel auch ihre Geschichte zu erzählen weiß.

In Tagträumen ruft Ahmet Arslan nicht nur seine Widerstands-, Gefängnis- und Foltererfahrungen ins Gedächtnis zurück, sondern all die kulturellen Missverständnisse mit der Wiener Multi-Kulti-Gesellschaft.

Auch in seinem Dorf findet Arslan nicht die gewünschte Heimat, sondern eine trostlose, von militärischer Unterdrückung gezeichnete, von ihren jungen Menschen verlassene Landschaft, ihrer alten Kultur entfremdet, in der Moderne noch nicht angekommen. Seine greise Mutter guckt von früh bis spät Telenovela, und zwischen ihm und seinem Bruder Kerim, Biobauer, Bürgermeister und AKP-Konformist, entflammt ein leidenschaftlicher Familienzwist. Wunderbare Charaktere weiß Schuberth zu entwerfen, den aus Italien heimgekehrten Gentleman-Gastarbeiter Murat alias Angelo etwa, oder ein mysteriöses alterskluges Hirtenmädchen, das in surrealen Sequenzen Ahmets Lebenslügen gegen ihn selbst in Stellung bringt.

Und dennoch gelingt die Rückkehr in die Kindheit, in die Schönheit der Natur und des Dersimer Alevismus, der mehr Philosophie als Religion vorstellt. Einmal darf Ahmet noch den Kranichtanz bei einem Cem, der Zeremonie der Aleviten tanzen. Doch eine schreckliche Entdeckung in Kerims Computer zerreißt die Idylle, und das Auftauchen einer versprengten PKK-Einheit holt den Teilzeit-Eskapisten in die Gegenwart zurück. Niemand entkommt der politischen Realität.

Richard Schuberth tänzelt trittsicher zwischen magischem und Hyperrealismus, zwischen auktorialem und multiperspektivischem Erzählen, zwischen bissiger Ironie und Empathie. Und beherrscht die große Kunst der Provokation. Zum Beispiel die unserer Vorstellungen vom Fremden und Anderen. Sein Dorf entpuppt sich nicht als exotische Peripherie, sondern globaler Ort, der sich unserer Flucht vor der Wirklichkeit verwehrt. Nach einem dramatischen Showdown lässt Schuberth in einem Epilog den deutschen Reiseschriftsteller, der es auf keinem Stationsklo der Busreise schaffte, sich zu erschießen, Beichte ablegen von der Verlogenheit seiner und unserer kulturellen Aufgeschlossenheit, welche vorgibt, das Fremde zu ermächtigen, doch mittels kulinarischer Zurichtung doch nur zur Ware macht. Worüber, wenn alles Ware ist, kann man dann überhaupt noch schreiben? Sein kurdischer Gesprächspartner gibt ihm ein Beispiel: Zum Beispiel über zwei Esel, die sich ihrer Verwertung entzogen und gemeinsam in die Berge durchbrannten. Mit dieser wahren Tiergeschichte endet dieser ungewöhnliche Roman.


Gérard Turbanisch ist ein ehemaliger Entwicklungshelfer, der in Afrika wirkte. Dort betätigte er sich unter anderem für die KfW als Berater verschiedener afrikanischer Staatsleute und war Vertrauter des 1987 ermordeten Präsidenten von Burkina Faso, Thomas Sankara. Turbanisch zählt zu den Entdecker:innen des prähistorischen Dorfes Parc des Courtinals bei Montpellier in Südfrankreich und ist Übersetzer des Buches Kämpfer der Hoffnung des Missionars Pater Pedro Opeka in Madagaskar.