Zur Geschichte des Ezidentums
Der 74. Massenmord an Ezid*innen in Şengal, der sich am heutigen 3. August zum vierten Mal jährt, ist das letzte große Schreckensereignis in einer über tausendjährigen Verfolgungsgeschichte.
Der 74. Massenmord an Ezid*innen in Şengal, der sich am heutigen 3. August zum vierten Mal jährt, ist das letzte große Schreckensereignis in einer über tausendjährigen Verfolgungsgeschichte.
Die Geschichte des Ezidentums ist eine Geschichte der Massaker und Vertreibungen. Şêx Adî hat das Ezidentum im 12. Jahrhundert im Libanon zum ersten Mal in Form einer Religion formuliert und reformiert. Şêx Adi bin Musafir ist laut Überlieferung 1075 im heutigen Libanon im Dorf Betil Far (heute Hirbet Kanafar) zur Welt gekommen. In seiner Jugend war er Schüler des bekannten Sufi-Mystikers Imam Gazali. Imam Gazali (Alagazel) vertrat auf der Grundlage griechischer Philosophie das Konzept von religiösem Erkenntnisgewinn durch skeptische Auseinandersetzung mit den Glaubenslehren. Er lernte auch den Kurden Evdilqadir Geylanî, den Gründer des für seine Konzepte von Toleranz und Nächstenliebe bekannten Qadiri-Ordens, kennen. Daraufhin ließ er sich mit seinem Neffen Şêx Hesen im Laleş-Tal bei Mosul nieder. Die Region stand damals unter der Kontrolle der kurdischen Clans aus Hakkâri. Manche Quellen berichten, dass Şêx Adîs Vorfahren vor den islamischen Massakern in den Libanon geflohen waren. Şêx Adî schuf aus dem Mitraismus und dem Zoroastrismus eine Synthese und begann die Eziden um sich herum zu versammeln (vgl. Mehmet Özcan, Güneşin Çocukları Êzidîler).
Şêx Adî systematisierte das Ezidentum auf widerständiger Grundlage
Şêx Adî reformierte den in der Laleş-Region vorhandenen Zoroastrismus, blieb aber dem Wesen der Religion treu und systematisierte sie in Form einer Widerstandsideologie als Ezidentum. Şêx Adi und seine Freunde zogen lange Zeit durch die Berge zwischen Hakkârî und Sindschar, um in der kurdischen Bevölkerung das Ezidentum zu verbreiten. Sie wurden berühmt für ihren Widerstand gegen die Besatzung der Region.
Da sich viele Oppositionelle in dieses Gebiet von Şêx Adî flüchten konnten, wurde er auch als Retter berühmt. Aufgrund seiner Toleranz gegenüber diesen Schutzsuchenden wurde er hochgelobt. Er verstarb 1162 in Laleş.
Mit den Abbassiden wurde der Islam Schritt für Schritt konservativer
Wenn wir die Definition des Ezidentums durch Şêx Adî betrachten, wird offensichtlich, dass das Ezidentum auf viel älteren kulturellen und weltanschaulichen Grundsätzen basiert. Es bestehen auch enge Beziehungen zu der Ordenskultur, die als Alternative zur Vermischung von Islam, Staat und Regierung entstanden sind. Der Islam wurde von den Abbassiden im 9., 10. und 11. Jahrhundert Schritt für Schritt konservativer gemacht. Der verstaatlichte, verherrschaftlichte Islam geriet in einen Zustand, in dem er sich selbst nicht mehr erneuern konnte und sich selbst der Weiterentwicklung und der theologischen Diskussion verschloss.
In Öcalans Werk „Kurdische Frage und die Lösung der Demokratischen Nation“ stellt Öcalan zum Sufismus fest: „Wir beobachten bei den Kurd*innen in den Ebenen eine Strömung, die sich in den sufistischen Orden manifestiert und dadurch gegen die Assimilation Widerstand leistet. Der Sufismus stellt einen Islam (Bâtini Islâm), der das gesellschaftliche Gewissen und die Moral mit größerer Tiefe ausdrückt als der staatliche, herrschaftliche Islam. Es entspricht der historischen gesellschaftlichen Realität, den Islam in zwei Grundkategorien aufzuteilen: den etatistischen und machtorientierten sowie den gesellschaftsorientierten. Der gesellschaftsorientierte Islam zeigt sich vor allem im Sufismus, seine Organisierung in breiten gesellschaftlichen Orden ist Ausdruck dessen. Gesellschaftsorientierter Islam und Demokratie sind eng miteinander verbunden. Der Sufismus ist eine Form der sozialen islamischen Orientierung gegen den immer enger mit der Macht verschränkten Islam und stellt eine Form der Solidarität in der Bevölkerung und eine Zuflucht dar.“
Der Versuch, angesichts des staatlichen Islams weiterzuleben
Wenn man es aufmerksam betrachtet, dann versuchten sowohl Völker als auch andere Gemeinschaften einen Weg zu finden, gegen den immer konservativer werdenden Staatsislam zu überleben. In diesem Zusammenhang haben sich auch die unterschiedlichen Konfessionen als Ergebnis der Suche der Gesellschaften, ihre Ansichten auf moralischer Grundlage zu leben, entwickelt. Die Gesellschaft findet so Wege, sich selbst auszudrücken.
In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung der Orden von Bedeutung. „Tarîk“ ist Arabisch und bedeutet „Weg“. Tarîkat ist der Plural des Wortes, bedeutet als „Wege“. Mezhep (Konfession) kommt vom Verb „fsahab“, also „gehen“. Während sich Tarîkat also auf Forschung und Inspiration bezieht, stützt sich die Konfession auf die heiligen Bücher und Propheten.
Staatsorientierter Ansatz trennt Konfessionen von der gesellschaftlichen Realität
Öcalan schreibt dazu weiter: „Die tiefgehende und intensive Präsenz sufistischer Strömungen in der kurdischen Gesellschaft hat im Wesentlichen etwas mit den schlechten Beziehungen der Kurden zur Macht zu tun. Viele der Gründer sufistischer Orden haben kurdische Wurzeln. Auch das hat etwas mit der gesellschaftlichen Realität der Kurden zu tun. Die Orden stellen eine Art Selbstverteidigungsorganisationen des Volkes dar. So wie die Gewerkschaften eine Rolle im Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Herrschaft spielen, haben die sufistischen Orden eine ähnliche Rolle in den Gesellschaften des Mittleren Ostens eingenommen. Sie haben als Verteidigungsorganisation sowohl des Glaubens und Denkens als auch als ökonomische Organisationen eine Rolle gespielt.“
Wenn man die Orden unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, dann erkennt man die wichtige Rolle der Orden bei der Demokratisierung der Gesellschaft und der Abfederung der staatlichen Herrschaft. Andererseits haben sich die Orden, ähnlich wie die Gewerkschaften im Verhältnis zur kapitalistischen Klasse, mit dem Staat verbunden und sich vom Machtstreben anstecken lassen oder wurden in den Herrschaftsapparat aufgenommen und damit korrumpiert. Sie haben so eine wichtige Rolle bei der Integration der Gesellschaft in den Staat gespielt. Der staats- und machtfixierte Ansatz hat die Konfessionen und Orden von der gesellschaftlichen Realität entfremdet.
Das Ezidentum: Mehr als eine Glaubensrichtung
Im Mittleren Osten und vor allem in Kurdistan haben sich viele Orden herausgebildet. Nakşibendi und Qadiri sind nur zwei unter vielen Orden. Neben diesen Orden entwickelte sich bei den Kurd*innen das Ezidentum, das Alevitentum und der Yarsanismus/Mithraismus/Kakaismus. Sie funktionierten, um die Gesellschaften gegen Unterdrückung und Grausamkeiten am Leben zu erhalten, indem offen Widerstand geleistet oder auf eine andere Weise eine Ausdrucksmöglichkeit und einen Weg in dem pausenlosen Erleben des Widerspruchs zum herrschenden System gefunden wird.
Wenn wir das Ezidentum in diesem Kontext betrachten, dann können wir es als gesellschaftliche Form betrachten, sich selbst auf einer demokratischen Basis gegenüber Staat und Macht zu behaupten. Das gleiche gilt für Kultur und Ökonomie, die durch religiöse Rituale am Leben erhalten werden. In diesem Sinne ist es nicht ausreichend, das Ezidentum, dessen Wurzeln bis weit in die Geschichte zurückreichen, heute bloß als Religion oder als Reaktion auf die herrschenden Glaubensgrundsätze zu begreifen.
Die beiden von Şêx Adî entwickelten heiligen Bücher
Es gibt zwei von Şêx Adî entwickelte heilige Texte. Der eine ist das 1161 geschriebene Buch El Celwe, das Buch der göttlichen Erscheinungen. Es schreibt über „Glaube, Orden, Weg, Methode und Tradition“. Ein weiteres Buch wurde 1342 von Mushaf geschrieben, es ist das Schwarze Buch. Dieses Buch erzählt von der Weltentstehung und dem Auftauchen des Ezidentums. Beide Bücher sind in Kirmançki-Kurdisch verfasst. „Das Wort Êzid, aus der Avesta des Zoroastrismus Yazata, Yazdan, Yezdan (Gott, Engel, Angebetenes), ist Wurzel für Wörter mit gleicher Bedeutung, die im Kurdischen heute weiter Verbreitung finden. Die Ezid*innen verstehen Êzda als Kombination des Personalpronomens ich und der dritten Person Singular des Verbs „da“ (geben), das heißt, er/sie hat mich gegeben, also geschaffen. Xwedê – Gott ist ein heute weit verbreiteter Männername unter den Eziden. Auf Dimilkî-Kurdisch wird Mazda (Maz – da) – der, der uns gibt – und auf Kurmancî-Kurdisch Xwe-da – gottgegeben – verwendet. Êzda ist einer der 1001 Namen Gottes im Ezidentum, der bekannteste ist jedoch Xweda.
Das Ezidentum blieb ausschließlich auf Kurd*innen beschränkt
Das Ezidentum ist eine alte mesopotamische Religion. Sie vereint Mitraismus, Mazdaismus und Zoroastrismus in sich und trägt auch Einflüsse der abrahamitischen Religionen in sich. Das Ezidentum ist jedoch wie das Judentum auf eine Nation beschränkt, es ist der alte Glaube der Kurd*innen und auf Kurd*innen beschränkt. Das Ezidentum hat eine Synthese aus dem Dualismus des Zoroastrismus und dem Monotheismus geschaffen und stellt eine monotheistische Religion dar. Gott hat demnach sieben Engel geschaffen. Der Engel Tawisi war der Hauptengel. Die sieben Engel sind verantwortlich für die Schöpfung der Welt. Es gibt ein Kastensystem, an dessen Spitze sich die Mir befinden. Dann folgen Bave Şêx, Şêx, Pir, Feqir und Murid.
Das Ezidentum hat nichts mit dem Yezidentum zu tun
Teilweise wurde nicht ohne Erfolg versucht, das Ezidentum absichtlich mit dem Yezidentum in Verbindung zu bringen. Das Ezidentum hat weder historisch noch aktuell mit den Anhängern Yezids etwas zu tun. Im Gegenteil, die Ezid*innen haben durch die islamistischen und staatlichen Yezid-Anhängern die schlimmsten Massaker erlebt.
Der Gründer des Ezidentums ist Şêx Adî. Das Ezidentum wurde von Şêx Hesen verbreitet und weiterentwickelt. Şêx Hesen hat das Ezidentum als nichtislamischen Glauben definiert. Weil er immer wieder von den Herrschenden als Bedrohung angesehen wurde, wurde er 1221 in Mosul hingerichtet. Über Şêx Hesens Sohn Şerfeddin gibt es Dutzende Lieder und er wurde zu einer Person mit großer Bedeutung für das Ezidentum. Şerfeddin fiel im Kampf zur Verteidigung der Ezid*innen gegen die Mongolen.