Im zweiten Teil des Interviews unterstreicht Murat Karayilan, Oberkommandierender der Volksverteidigungskräfte HPG und Mitglied im Exekutivrat der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, die Bedeutsamkeit einer nationalen Einheit für das kurdische Volk. Der Grundstein, als stärkste Kraft im Mittleren Osten zu agieren, sei gelegt, allerdings müsse zuvor der Regionalismus verbannt werden, so Karayilan.
Vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni hieß es, der türkische Staat werde in Qendîl seine Flagge hissen. Wie sehen Ihrer Meinung nach die Strategie und militärischen Ziele Ankaras in Südkurdistan aus? Welche Gebiete sind derzeit besetzt?
Bekanntermaßen beschränkt sich das neue Kriegskonzept des türkischen Staates nicht nur auf Nordkurdistan, sondern umfasst auch militärische Aktivitäten in anderen Teilen Kurdistans. Die Allianz zwischen der AKP-MHP-Ergenekon und al-Qaida bildet die Basis dieser Strategie. Infolgedessen hat sich in Nordkurdistan ein gewisses Maß an Krieg entwickelt, mit dem sich wandelnden Stil der Guerilla allerdings ist sich auch der Staat darüber bewusst, dass er nicht mehr besonders viel erreichen wird. So sehr auch in Nordkurdistan nachrichtendienstliche Mittel und Militärtechnik eingesetzt werden, die der Guerilla möglicherweise einige Schläge versetzen, wird es wohl kaum möglich sein, die Guerilla aus dem Herzen Kurdistans zu reißen. Kurz gefasst: Einen ergebnisbringenden Krieg wird die Türkei nicht führen können. Ich schätze, das weiß die Regierung auch.
In Westkurdistan (Rojava) ist das neue Kriegskonzept auf großen Widerstand gestoßen. Aus militärischer und finanzieller Sicht erlebte der türkische Staat in Efrîn einen erheblichen Kräfteverschleiß. Weder konnte er seine Moral steigern noch den erhofften politischen Gewinn einspielen. Darüber hinaus bildet das gegenwärtige System in Syrien und Rojava auch keine Grundlage für den türkischen Staat, mehr zu tun. Zu Minbic wurde zwar viel gesagt, doch Fakt ist, dass die Türkei in Minbic gescheitert ist. Das Durchführen von Patrouillen-Aufgaben an den gemeinsamen Grenzen ist für sie kein echter Gewinn, sondern dient der Regierung lediglich als Propagandamittel. Die Wahrheit ist, dass der türkische Staat in Syrien in einem Sumpf versinkt. Zu einem weiteren Vorstoß in Rojava ist er nicht in der Lage. Das spürt die Regierung mit jedem Schritt.
Aus türkischer Sicht sehen die Voraussetzungen für die Invasionsbemühungen in Südkurdistan im Moment etwas besser aus. Unsere Bewegung hält hier jedoch starke Stellungen, daher verhält sich die Armee zögerlich. Seit dem letzten Jahr gibt es Bemühungen der türkischen Truppen, ins Landesinnere einzudringen und weitere Stellungen zu gewinnen. Im Zuge dessen ließen sie sich zunächst in der Region Zap auf dem Koordine-Gipfel nieder, der nur 500 Meter vor der Grenze liegt. In Xeregol drangen sie einige hundert Meter ins Landesinnere ein. Der vom türkischen Militär besetzte Gipfel Xwedê ist etwa zwei bis drei Kilometer von der Grenze entfernt. Zuletzt gingen die türkischen Truppen auf dem Kanîreş-Gipfel in Stellung. Dieses Gebiet ist eine Art Pufferzone nahe der Grenze. Zusammengefasst haben sich die türkischen Truppen auf dieser Linie Richtung Süden bewegt. Allerdings handelt es sich hierbei lediglich um die Front, die wir als Eingang von Xakurkê bezeichnen, und nicht um die gesamte Region Xakurkê. Es ist ein unbewohnter Ort und wird auf der einen Seite von der Guerilla kontrolliert und auf der anderen Seite von den Peschmerga. In Deşta Heyatê gibt es einen Hügel namens Tepê Kevortê. Nachdem dieser Gipfel besetzt wurde, ging es unter dem Schutz von Luft- und Bodenschlägen weiter Richtung Lêlîkan. Bis zur Grenze sind es von Lêlîkan aus etwa 20 Kilometer. Das bedeutet aber nicht, dass die türkische Armee bis zu 20 Kilometer in das von uns kontrollierte Gebiet vorgestoßen ist. Vom Kevortê betrachtet sind es um die drei, vielleicht vier Kilometer. Auf diese Weise präsent zu sein, ist aus militärischer Sicht kein Vorteil, da die türkische Armee dadurch umso mehr ins Visier der Guerilla gerät. In den besetzten Gebieten, insbesondere am Lêlîkan, finden ständig Aktionen statt. Der Gipfel ist von der Guerilla regelrecht eingekesselt und die Distanz zu den türkischen Truppen beträgt lediglich einen Abstand, der für ein Attentat vollkommen ausreicht. Obwohl ständig Kampfjets, Hubschrauber und Aufklärungsflugzeuge in der Region aktiv sind, hat die dort Stellung bezogene Guerilla bisher keinen einzigen Verlust erlitten. Mit Luftschlägen kommt der Feind am Lêlîkan nicht weiter, da hier ein gewisser Kampfstil erreicht wurde, der Erfolge mit sich bringt. Die türkischen Truppen warten in den Gebieten, in denen sie seit dem Frühjahr anwesend sind. Da sie kein Risiko eingehen können, versuchen sie derzeit eine Entscheidung zu treffen. Würde sich das Militär zurückziehen, wäre es eine Niederlage für die Regierung. Vor allem die Propaganda während der gesamten Wahlperiode und der generelle Diskurs in der Türkei betrifft immer weiteren Krieg. Aus diesem Grund muss sich die Regierung wieder ihrem Konzept hinsichtlich Südkurdistan zuwenden, das die Vertreibung der Guerilla vorsieht, die auf diese Weise geschwächt und unwirksam gemacht werden soll. In Wirklichkeit versuchen sie, die Invasion umzusetzen, an der sie in der Vergangenheit gescheitert sind. Dieser Plan wird sogar umfassender behandelt als das internationale Komplott 1999 [Verschleppung Abdullah Öcalans aus der griechischen Botschaft in Nairobi/Kenia in die Türkei]. Dieses Mal werde dem Staat angeblich gelingen, die Hauptquartiere der PKK zu zerschlagen, um sich dort niederzulassen. Wenn es tatsächlich solch einen Plan geben sollte, müssten die Truppen auch vorstoßen. Da sich der Staat im Klaren darüber ist, dass die Armee in so einem Fall auf einen ernstzunehmenden Widerstand der Guerilla treffen wird, geht er kein Risiko ein. Dieser Boden birgt für die türkischen Truppen eine Reihe von Gefahren und bösen Überraschungen. Deshalb sind sie auf der Suche nach Gefolgsmännern. Wir wissen, dass es auf verschiedenen Ebenen Treffen mit dem Iran und Irak gegeben hat. Auch in Bagdad gab es einige Gespräche dieser drei Staaten und finden gelegentlich auch weiterhin statt. Das grundlegende Ziel der türkischen Regierung, das bei diesen Treffen vorgetragen wird, lautet: ‚Lasst uns gemeinsam gegen die PKK vorgehen und sie vollständig beseitigen, damit wir die Kurdenfrage in Südkurdistan lösen können, die uns allen Kopfschmerzen bereitet. Wenn die Kurden dort keinen Status mehr innehaben, können wir die totale Kontrolle über sie erlangen‘. Folglich ist das vorrangige Ziel die PKK. Für Rojava heißt es: ‚Wenn drei Millionen Kurden in Rojava einen Status erreichen, werden 25 Millionen Kurden in Nordkurdistan ebenfalls einen Status fordern. Sollten die Kurden in Rojava einen Status erlangen - sei es eine Föderation oder Autonomie -, besteht die Gefahr einer Föderation für sechs Millionen Kurden im Süden. Diese Errungenschaften würden die Menschen Nordkurdistans mobilisieren‘. So soll verhindert werden, dass die Revolution von Rojava ihre Früchte trägt. Der Status von Südkurdistan soll mit der Zerschlagung der PKK vollkommen zunichte gemacht werden. Natürlich spricht die türkische Regierung nicht von ihren wahren Absichten, sondern ist bestrebt, die südkurdische Bevölkerung und ihre politischen Kräfte in ihren Krieg gegen die PKK einzubeziehen, um ihre Pläne zu verwirklichen. In der aktuellen Situation ist das nicht möglich. Wenn sie im Besitz der nötigen Stärke wäre, hätte sie es längst getan.
Unsere Entscheidung sieht folgendermaßen aus: Sollte der türkische Staat in Südkurdistan ins Landesinnere eindringen, wäre dies eine echte Gelegenheit für uns. Wir werden uns nicht auf die Strategie der Verteidigungstaktik beschränken. Zweifellos werden wir all unsere Kräfte schützen, unsere Haupttaktik sieht allerdings eine historische Abrechnung mit der türkischen Armee vor, die im Sumpf von Südkurdistan versinken soll. Wenn sie kommen, werden wir kontern und den Invasionsversuch in eine Niederlage des türkischen Staates verwandeln.
Welche Art von Kooperation gibt es zwischen der PDK und der türkischen Armee in Bezug auf die Angriffe und Invasionsversuche in Südkurdistan?
Der türkische Staat ist bemüht, den Iran und den Irak auf seine Seite zu ziehen. Wie es scheint, hat die Türkei bisher keinen Deal erreichen können. Im Moment konzentriert sich dieser kolonialistisch-faschistische Staat auf die Kräfte in Südkurdistan. Es wurde deutlich, dass die PDK gewisse Übereinkünfte mit Ankara getroffen hat, deren Ausmaß noch nicht ganz klar ist. Fakt ist jedoch, dass der türkischen Regierung politischer Handlungsspielraum gewährt wurde, reger nachrichtendienstlicher Informationsaustausch stattfindet und Stillschweigen angesichts der Invasionsversuche bewahrt wird. Man kann sagen, dass das bisher Geschehene in diesem Rahmen ablief. Unklar ist, ob die PDK wie bisher weitermacht, ihre Beziehungen zu Ankara weiter ausbaut oder sich zurückzieht. Die türkische Regierung beabsichtigt, ein Beziehungsgeflecht aus allen Kräften Südkurdistans aufzubauen, das im Krieg gegen uns voll und ganz eingesetzt werden soll. Mit der PDK allein wird Ankara hier nicht besonders weit kommen. Das wäre aus politischer Sicht auch ein Risiko für die PDK. Deshalb nähert man sich jetzt stärker an die YNK. Wir haben bereits erfahren, dass sich der Vorsitzende der Yekgirtû als Vermittler zwischen Ankara und einigen Organisationen einbringt. In diesem Zusammenhang wird die Gorran-Bewegung massiv unter Druck gesetzt. Zu diesem Zweck hält sich auch Hakan Fidan [Leiter des türkischen Auslandsgeheimdienstes MIT] öfter in Südkurdistan auf.
Kurz gesagt, der MIT ist in Südkurdistan ausgesprochen aktiv. Ausländischen Fluggesellschaften mit dem Ziel Silêmanî wird beispielsweise verboten, den türkischen Luftraum zu nutzen. Mit solchen Embargos und anderen Erpressungen soll die YNK zur Kapitulation gezwungen werden. Dass es in Südkurdistan keine Einheit unter den Kurden gibt, nutzt Ankara in vollen Zügen aus.
An sich sind für das kurdische Volk die Voraussetzungen gegeben, wichtige Errungschaften im Mittleren Osten zu erzielen. Der Grundstein, als stärkste Kraft in Mittelost zu agieren, ist gelegt, nur fehlt den Kurden die nationale Einheit. Zuvor müsste der Regionalismus aus den Köpfen der Menschen verschwinden. Jeder sollte sich die Situation in Südkurdistan vor Augen führen und mit Verantwortung handeln. Diejenigen, die sich heute trotz aller Fakten dem türkischen Kolonialismus zuwenden statt der nationalen Einheit, werden morgen nicht umhin können, im Angesicht der Geschichte Rechenschaft abzulegen. Auf Biegen und Brechen müssen wir auf einem Dialog für die nationale Einheit bestehen und versuchen, auf dieser Grundlage Ergebnisse zu erzielen.
Ich glaube, dass wir ausschlaggebende Ergebnisse erzielen werden, indem wir eine neue revolutionäre Doktrin umsetzen, der die Organisierung und Selbstverteidigung innerhalb der Bevölkerung zu Grunde liegt und die sich nicht auf den Widerstand in den Bergen beschränkt, sondern auf alle Teile des Landes und der Gesellschaft stützt. Ich möchte betonen, dass sich unsere Bemühungen weiterhin in diese Richtung konzentrieren.