Efrîn: Ein völkerrechtswidriger NATO-Krieg

Ein gestern erschienenes Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages belegt nicht nur die Völkerrechtswidrigkeit des türkischen Angriffskrieges auf Efrîn, sondern auch die Komplizenrolle der NATO-Staaten.

Gestern erschien ein im Auftrag des Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE. Alexander Neu gegebenes Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags zur „völkerrechtlichen Bewertung der ‚Operation Olivenzweig‘ der Türkei gegen die kurdische YPG in Nordsyrien“. Dieses Gutachten bestätigte nicht nur die Völkerrechtswidrigkeit der türkischen Invasion, sondern wies auch implizit auf die Komplizenrolle der NATO-Staaten hin.

Türkei argumentiert mit Selbstverteidigung ohne auch nur einen Beweis vorzulegen

Die Türkei berief sich bei ihrer am 20. Januar 2018 gegenüber dem UN-Sicherheitsrat abgegebenen Erklärung auf Art 51 der UN Charta auf das „Selbstverteidigungsrecht“ aufgrund angeblicher Raketenangriffe aus Efrîn auf die Provinzen Hatay und Kilis. Wie wir schon zuvor berichteten, haben die YPG eine Beteiligung an solchen Angriffen ausgeschlossen und es gibt vielmehr Hinweise darauf, dass die Raketen, die auf Städte wie Reyhanlı abgeschossen wurden, aus dem direkten Umfeld der Städte abgefeuert worden sind. Darauf weist auch die geringe Reichweite der eingesetzten Flugkörper hin (Raketen auf Reyhanli wurden aus der Türkei abgeschossen). Im Gutachten finden sich dazu keine Angaben, allerdings wird dargelegt, dass die Türkei ihrer völkerrechtlichen Beweislast zur Begründung des Angriffs auf Efrîn nicht im Ansatz nachgekommen sei. Auch die Grenzscharmützel, welche die Türkei anführt, reichten nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshof nicht aus, um einen Selbstverteidigungsfall zu rechtfertigen, „Ein singuläres und medial entsprechend rezipiertes Ereignis … das die Schwelle zum Art. 51 der UN-Charta eindeutig erreicht, scheint es im Vorfeld der ‚Operation Olivenzweig‘ nicht gegeben zu haben“, und an anderer Stelle heißt es in dem Gutachten: „Die Türkei untermauert zwar argumentativ die dogmatische Begründung eines Selbstverteidigungsrechts gegen nicht-staatliche Akteure, bleibt jedoch den konkreten Beweis für das Vorliegen eines, das Selbstverteidigungsrecht auslösenden Angriffs schuldig“. Weiterhin habe die Türkei in ihrem Schreiben an den UN-Sicherheitsrat auch kein solches Ereignis angezeigt.

Aus Recherchen von ANF wird klar, dass es sich bei den sogenannten „Grenzscharmützeln“ um immer wiederkehrende Angriffe auf Nordsyrien von türkischem Boden aus handelte – dabei wurden lange vor der Invasion wiederholt Zivilist*innen in Rojava und Nordsyrien verletzt und getötet. Stimmen aus der Region betonten immer wieder, dass diese Angriffe darauf abzielten, eine Gegenwehr der YPG/YPJ zu provozieren und so einen Verteidigungsfall auszulösen. Retrospektiv erscheint diese These nicht ganz von der Hand zu weisen. Deutlich ist hierzu auch die Abschlussbemerkung des Gutachtens „Angesichts der bestehenden Zweifel am Vorliegen einer Selbstverteidigungslage nach Art. 51 VN-Charta sowie am verhältnismäßigen Vorgehen der türkischen Streitkräfte in Nordsyrien steht die Berufung der Türkei auf das Selbstverteidigungsrecht auf ausgesprochen ‚tönernen‘ Füßen“.

Auch das Gebot der Verhältnismäßigkeit wird gebrochen

Selbst wenn man eine völkerrechtliche Legitimation des Angriffskrieges annehmen würde, kommt zusätzlich noch das Gebot der Verhältnismäßigkeit zum Tragen. Die Türkei hatte ihre Operation in ihrem Brief an den UN-Sicherheitsrat in diesem Sinne dargelegt, dass sich ihre Operation strikt gegen militärische Ziele richte und versuche damit pro forma dem Grundsatz zu entsprechen, dass sich die Verteidigungsmaßnahmen strikt auf militärische Ziele zu beschränken hätten. An diesem Punkt traut sich der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages offensichtlich nicht den de facto stattfindenden ausgedehnten Angriff auf die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur, der seit dem 20. Januar schon über 200 Zivilist*innen das Leben gekostet hat, beim Namen zu nennen und sagt, dass sich Kriegsverbrechen „weder erhärten, noch ausschließen ließen“. Im römischen Statut des Völkerstrafrechts heißt es zu solchen Fällen: „Um der Weltöffentlichkeit zu zeigen, dass eine militärische Maßnahme erkennbar vom Selbstverteidigungsgedanken getragen ist, wird der sich verteidigende Staat Kriegsverbrechen tunlich zu vermeiden suchen. Begeht er dagegen Kriegsverbrechen, so spricht dies prima facie für die Unverhältnismäßigkeit der Selbstverteidigungshandlung.“

Türkei versucht geostrategische Interessen durch Krieg umzusetzen

Auch wenn die Wissenschaftlichen Dienste keine Aussagen zu Kriegsverbrechen treffen, so sehen sie die türkische Invasion dennoch auch als „unverhältnismäßig“ hinsichtlich „Umfang, Zielen und Dauer“ an. Es wird festgestellt, dass es Ziel der Türkei sei, „die Entstehung eines kurdischen de facto- Regimes zu verhindern und gleichzeitig die Chance zu nutzen, die der Zerfall Syriens und des ‚Islamischen Staates‘ bietet, um den eigenen Einflussbereich auszuweiten“. Eindeutig ist hier die Einordnung der Wissenschaftlichen Dienste: „Die militärische Verfolgung der erklärten geostrategischen Ziele geht daher bei Lichte betrachtet über ein strikt am Gedanken der Selbstverteidigung ausgerichtetes Handeln hinaus“, da sie zur dauerhaften Veränderung von Strukturen und Einflusszonen auf fremdem Staatsterritorium führen können.

Kritik am Schweigen der internationalen Gemeinschaft

Interessant ist, dass die Wissenschaftlichen Dienste an mehreren Stellen des Gutachtens die Haltung der NATO zu den Angriffen thematisieren. So hat NATO-Generalsekretär Stoltenberg ebenfalls am 25. Februar 2018 die Angriffe der Türkei implizit mit dem Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt, ebenfalls ohne eine Begründung dafür anzugeben. Das Gutachten hebt auch die Gefahr, die das Schweigen der internationalen Gemeinschaft zu den Angriffen auf Efrîn an den Tag legt, hervor: „Indes ist in der Wissenschaft darauf hingewiesen worden, dass ein diesbezügliches Schweigen der Staatengemeinschaft nachteilige Wirkungen auf die Völkerrechtsordnung entfalten könnte.“ So könne das Ausbleiben von „rechtlichem Protest“ als Billigung einer „völkerrechtlich fragwürdigen Intervention“ verstanden werden. Völkerrechtliche Bewertungen, vor allem aus den Kreisen der NATO seien womöglich aus bündnispolitischer Rücksichtnahme gegenüber dem NATO-Mitglied Türkei ausgeblieben.

In der Abschlussbemerkungen stellen die Wissenschaftlichen Dienste die Verantwortung der NATO noch einmal heraus, so heißt es, den NATO-Bündnispartnern obliege es, die Türkei aufzufordern, triftige Beweise für das Vorliegen einer Selbstverteidigungslage vorzulegen und von einer Weiterverfolgung ihrer militärstrategischen Ziele in Nordsyrien Abstand zu nehmen. „In diesem Zusammenhang könnte die Türkei an ihre Verpflichtung aus Art. 1 NATO-Vertrag erinnert werden, sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind.“ Dass das bisher nicht geschehen ist spricht mehr als tausend Worte.

Der Außenpolitiker der Fraktion DIE LINKE. und Auftraggeber des Gutachtens Alexander Neu kommentiert das Gutachten: „Dass die Türkei sich in Nord-Syrien selbstverteidigt, ist von Anfang an mehr als zweifelhaft gewesen. Geostrategische Ziele in einem Drittland unter Einsatz militärischer Mittel als Selbstverteidigung zu bezeichnen und damit bei den NATO-Partnern inklusive Deutschlands keinen Widerspruch zu erfahren, verweist einmal mehr auf den fortgesetzten gefährlichen Erosionszustand des Völkerrechts. Der türkische Einmarsch in Nord-Syrien ist nichts anderes als ein Angriffskrieg und bricht damit das zwischenstaatliche Gewaltverbot.“

Das Gutachten der WD kann unter folgendem Link eingesehen werden:

Völkerrechtliche Bewertung der „Operation Olivenzweig“ der Türkei gegen die kurdische YPG in Nordsyrien