Die Sackgasse von Idlib und der Gipfel von Teheran

Russland hat seine Ziele mit seinen Abkommen mit Tayyip Erdoğan erreicht. Sie haben dafür gesorgt, dass die Assad-Regierung weiterhin über einen großen Teil Syriens die Macht behält.

Die Diskussion über das Für und Wider einer Operation in Idlib dauert an. Die Türkei hat intensive diplomatische Bemühungen angestellt, um den Abzug ihrer Milizen aus Idlib zu verhindern. So intensiv, dass teilweise zweimal wöchentlich Treffen auf höchster Ebene in Moskau stattfanden. Alle Hoffnungen blieben auf den Dreiergipfel in Teheran am vergangenen Freitag gerichtet. Dabei hat die Türkei dennoch ihr Ziel verfehlt. Es lohnt sich jedoch, einen Blick darauf zu werfen, was hinter den Kulissen geschah.

Wie sind die Milizen nach Idlib gekommen?

Als die Revolutionen und Aufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen sich auch auf Syrien ausdehnten, ergriffen sie schnell das ganze Land. Das syrische Regime legte seinen Schwerpunkt auf ein Gebiet, das Damaskus, Aleppo, Latakia, Tartus, Jisr al-Shughur und Idlib umfasste. In diesem Gebiet lagen seine Machtbasen. Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung von Idlib sunnitisch ist, war diese Region aufgrund der schiitischen Gemeinden Fau und Kefriya sowie wegen ihrer Nähe zum Mittelmeer von strategischer und politischer Bedeutung. Dennoch drangen schnell Milizen in die Umgebung von Idlib ein und gelangten zu Einfluss. Der türkische Staat legte mit seinen Milizen genau auf die Gebiete, die dem syrischen Staat wichtig waren, ebenfalls seinen Schwerpunkt. Die Türkei schickte pausenlos Milizionäre über Reyhanlı nach Idlib, Jisr al-Shughur, Tartus und in die Umgebung von Latakia. An der Spitze der Milizen der Türkei stand die syrische Al-Qaida-Vertretung, Jabhat al-Nusra. So gestaltete sich die Lage seit Beginn des Bürgerkriegs. Neben al-Nusra versuchten sie durch die politische und militärische Kraft der Muslimbrüder, Ahrar al-Sham, wirksam zu werden. Eine Weile wurden in diesem Sinne auch Liwa Tevhid, Nureddin Zengi, Furkan, Fursan, Ahfad-i Resul und andere Milizen benutzt. Dazu kamen die direkt vom türkischen Geheimdienst gegründeten turkmenischen Gruppen wie Fatih Sultan Mehmed, Kanuni Sultan Süleyman, Kanunis Erben, Sultan Murad, Furqat al-Hamza, Samerkant, Sultan Abdulhamit und andere, die ebenfalls sowohl in Idlib als auch in anderen Regionen Syriens agierten. In Latakia operierten eine Zeitlang die 1. und 2. Turkmenische Brigade und es wurde mit aus Ost-Turkestan herangeschafften Dschihadisten die Islamische Partei Ostturkestans gegründet. Mit ihnen wurde versucht, Orte wie Latakia, Jisr al-Shughur und Tartus einzunehmen. Diese Milizen eroberten viele Orte, unter anderem Atme, Cilvegözü und den Grenzübergang Bab al-Hava.

Die Grenzübergänge selbst gingen aber nur an die von der Türkei dazu bestimmten Gruppen Ahrar al-Sham, Jabhat al-Nusra und den IS. Die Türkei ließ nicht zu, dass andere Gruppen die Kontrolle über die Grenzübergänge übernahmen. Allerdings bekamen die anderen Gruppen Anteile aus den Einkünften der Grenzübergänge ab.

Obwohl das syrische Regime in den inneren Gebieten, in Hama, Homs und auch in Kuseyr, Quneita an der libanesischen Grenze sowie in Dara und Zebedan an der jordanischen Grenze, aber auch in Aleppo unter massiven Druck stand, gab es Gebiete wie Latakia, Tartus, Jisr al-Shughur und Idlib nicht auf. Die AKP wollte, indem sie ihren Schwerpunkt auf Gebiete von zentraler Bedeutung für das Baath-Regime legte, dem syrischen Staat einen schweren Schlag versetzen.

Nach Kobanê - Idlib

Bis der große Plan des IS im September 2014 mit dem Angriff auf Kobanê begann, fand in dem als Küstenstreifen Syriens bezeichneten Gebiet ein gnadenloser Kampf zwischen der AKP/Erdoğan und dem baathistischen Regime statt. Ende des Jahres 2014 wollte die Türkei mit der durch den IS schwer gebeutelten, zunächst als FSA, dann als Islamische Front und schließlich als Sham-Front bezeichneten Gruppe eine neue Offensive starten und versuchte, dazu die Kräfte im Cebel-Zaviye-Gebiet in Idlib zusammenzuziehen. Die Gruppen versammelten sich dort unter dem Kommandanten von Thuwar Suriya, Cemal Maruf. Zur gleichen Zeit erlitt der IS vor Kobanê seine Niederlage. Als der IS in Kobanê besiegt wurde, mobilisierte das Erdoğan-Regime Jabhat al-Nusra gegen Idlib. Al-Nusra griff zuerst im Herbst 2014 die am Cebel Zaviye versammelten Gruppen an. In den Frühlingsmonaten des Jahres 2015 waren fast alle dieser Gruppen ausgelöscht worden. Nun richtete al-Nusra das Augenmerk auf das Regime in Idlib. An der Seite von al-Nusra kämpften die Gruppen der Türkei: die Sultan-Murad-Brigade, Ahrar al-Sham und Nureddin Zengi. In Zusammenarbeit mit al-Nusra brachte die Türkei diese Gruppen zusammen, um ihren eigenen Einfluss zu verstärken. Kurze Zeit darauf wurde Idlib, mit der intensiven Unterstützung durch die Türkei, dem Baath-Regime abgenommen. Idlib wurde nach Raqqa die zweite Provinz, die unter der Kontrolle der Dschihadisten stand.

Von den Spannungen zwischen Russland und der Türkei zur Kollaboration

Zu dieser Zeit kam es zur Konfrontation zwischen Russland und der Türkei. Die von der Türkei unterstützte Al-Nusra-Front, die 1. und 2. Turkmenische Küstendivision und die anderen turkmenischen Gruppen, die Islamische Partei Ostturkestan, Nureddin Zengi und Liwa Tevhid gingen mit offener Unterstützung der Türkei in Latakia und den anderen Küstenstädten zum Angriff auf das Regime über. Dabei schossen die Milizen im November 2014 ein in der Region zur Unterstützung des Regimes agierendes russisches Flugzeug ab. Viele der beteiligten Milizionäre kamen aus der Türkei. Einer von ihnen war Alparslan Çelik. Er ermordete den russischen Piloten mit eigenen Händen. Die daraus folgende Spannung zwischen Russland und Türkei dauerte bis Ende 2016 an. Im Dezember 2016 wurde der russische Botschafter in der Türkei, Andrej Karlow, bei einem Ausstellungsbesuch in Istanbul von einem Mitglied der Al-Nusra-Front ermordet. Als Karlow ermordet wurde, trafen sich gerade die Türkei, Russland und der Iran zur Bildung eines trilateralen Mechanismus in Moskau. Aus diesem Treffen resultierte eine Koordination der drei Staaten. Russland trat ab diesem Zeitpunkt in Kontakt mit der Türkei, um für den schrittweisen Rückzug der türkeitreuen Milizen zu sorgen.

Die Ziele der Kräfte in der trilateralen Koordination

Russland, der Iran und die Türkei hatten für ihre jeweilige Teilnahme an dem Dreiergarantie- und Koordinationsmechanismus eigene Pläne und Absichten. Der Iran wollte den Bedrohungen außerhalb des eigenen Territoriums begegnen und daher seine Anwesenheit im Libanon, im Irak und in Syrien schützen beziehungsweise sogar noch verstärken.

Russland wollte seinen Einfluss in Syrien behalten, dem einzigen Land im Mittleren Osten, in dem es präsent sein konnte. Russlands Strategie geht von der Maxime aus: „In Syrien zu sein, bedeutet im Mittleren Osten zu sein“. Beide Länder benötigen zur Durchsetzung ihrer Strategien ein weiteres Bestehen der Herrschaft von Bashar Assad in Syrien. Deswegen waren all ihre Bemühungen darauf ausgerichtet, das Assad-Regime an der Macht zu halten.

Die Ziele und Pläne der Türkei waren allerdings ganz andere. Die Türkei hat ihre ganze Politik darauf aufgebaut, die Assad-Regierung zu stürzen und eine Regierung aus Milizen zu bilden. Deshalb unterstützte sie offen viele dschihadistische und „oppositionelle“ Milizen, vor allem den IS und die Al-Nusra-Front, ganz offen.

Obwohl somit ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem Iran, Russland und der Türkei bestand, entschieden sie sich, gemeinsam vorzugehen. Immer wieder wurden Tayyip Erdoğans Äußerungen zu Assad zum Stein des Anstoßes in den russisch-türkischen Beziehungen. Gegenüber Russland erklärte Erdoğan, bei seinen wiederholt äußerst scharfen Verlautbarungen habe es sich um Missverständnisse gehandelt.

Erst Aleppo, dann Hama, Homs, Ghouta und Dara

Der erste Ausdruck des Dreiermechanismus war ein Deal zwischen Russland und der Türkei über den Austausch von Cerablus und Bab gegen Aleppo. Russland säuberte Aleppo von Milizen und setzte sich für eine baathistische Hegemonie in Syrien mit der Türkei zusammen. Die AKP forderte von Russland als Gegenleistung für den Rückzug der Milizen aus Aleppo die Genehmigung, Cerablus und Bab besetzen zu dürfen. In Folge dieses Abkommens verließen die Milizionäre Aleppo in Richtung Idlib. Die Türkei zog sogar alle Milizen aus Latakia ab und bereitete die Besatzung von Cerablus und Bab vor. Am 26. August 2016 rückten militärische Kräfte zur Besatzung von Cerablus mit schweren Waffen vor. Die Türkei hatte mit dem IS ein Abkommen geschlossen, dieser zog kampflos aus Cerablus ab und übergab die Stadt der türkischen Armee. Nach der Besatzung von Cerablus rückte die türkische Armee zusammen mit ihren Milizen auf Bab vor. In diesem Zusammenhang wurden auch Rai, Azaz und Exterin vom türkischen Staat besetzt. Das Ganze geschah mit Billigung Russlands, weil im Gegenzug die Milizen aus Hama und Homs abgezogen und in der Region Bab stationiert wurden.

Russland kam dann später mit der Türkei darüber überein, dass die Regionen Ghouta, Zebedan und Damaskus geräumt würden und die Türkei dafür in Efrîn einmarschieren könne. Die Türkei begann am 20. Januar 2018 mit einer blutigen Invasion in Efrîn.

Russland hat somit bewiesen, dass die von der Türkei in sieben Jahren im Bürgerkrieg unterstützten Milizen direkt von der Türkei abhängig sind. Russland hatten zuvor schon viele Dokumente erreicht, welche die Zusammenarbeit der Türkei mit dem IS dokumentieren. Einige dieser Dokumente sind zu Krisenzeiten auch veröffentlicht worden. Dass die Türkei die Milizen aus Aleppo, Hama, Homs, Dara, Latakia und Ghouta einfach so mit einem Abkommen mit Russland abziehen lassen kann, zeigt, wie tief die Verbindungen der Türkei zu diesen Gruppen reichen.

Russland hat sein Ziel erreicht

Russland hat seine Ziele durch die Beziehungen mit dem Erdoğan-Regime erreicht und durchgesetzt, dass ein großer Teil Syriens unter der Kontrolle der Assad-Regierung bleibt. Putin versuchte auch, die Assad-Regierung als legitime Regierung Syriens zu vermitteln. Damit war Russland zumindest teilweise erfolgreich. In Anbetracht dessen kann Russland nicht zustimmen, dass die Türkei syrisches Territorium besetzt hält und sich dort Milizen aufhalten. Wenn Russland das zulassen würde, würde die Position der anderen internationalen Mächte, die zur Illegitimität das Assad-Regierung tendieren, gestärkt werden. Damit würde sich die Lage Russlands in der Region deutlich verschlechtern. Daher setzt Russland die Türkei und ihre Milizen unter Druck, Idlib zu verlassen. Dabei geht es nicht nur um Idlib. Es geht um Efrîn, Rai, Exterin und Cerablus. Dieser in Idlib beginnenden Phase wird der Rückzug der Türkei und ihrer Milizen aus den genannten Regionen folgen, denn diese Gebiete gehören zum syrischen Territorium. Die Erklärungen des Iran und Russlands, die syrische Regierung habe das Recht, über das ganze Land zu herrschen, nach dem Dreiergipfel in Teheran deuten klar darauf hin. Der Gipfel stellte einen vollen Erfolg für Russland dar, Erdoğans Forderung nach einem Waffenstillstand wurde von Putin mit den Worten zurückgewiesen: „Im Namen von Terroristen kann niemand einen Waffenstillstand verlangen“. Das ist auch als eine deutliche Antwort auf die offenen Beziehungen Erdoğans zu den Milizen zu verstehen. Deshalb wäre es nicht falsch zu sagen, dass nicht nur in Idlib, sondern in ganz Syrien das Ende Erdoğans und seiner Milizen gekommen ist. Das geht deutlich aus dem Dreiergipfel hervor.

Erdoğan will seine Milizen retten

Erdoğan gab nach dem Gipfel verschiedene Erklärungen ab, in denen er seine Nichtzustimmung zu den Beschlüssen von Teheran in den Vordergrund stellte. Dennoch sieht es nicht danach aus, als ob Erdoğan mit dem Versuch, seine Milizen zu retten, Erfolg haben wird. So stellen Russland und der Iran ihre Interessen über die Interessen der Türkei in Syrien. Der russische Außenminister Lavrov hatte einen Tag vor dem Gipfel erklärt: „Wir sind drei Garantiemächte, aber unsere Interessen sind unterschiedlich.“ Das zeigt deutlich, dass Russland seine eigenen Interessen über alles andere stellt. Vor und nach dem Gipfel von Teheran und insbesondere nach den intensiven diplomatischen Bemühungen um Idlib hatte sich der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu um markige Erklärungen bemüht. So sagte er beispielsweise: „Ihr Ziel ist es, Idlib in ihre Hände zu bekommen.“ In seinen Erklärungen verhielt sich Çavuşoğlu so, als ob Idlib kein Teil Syriens wäre, sondern Syrien einen Teil eines anderen Landes besetzen wolle. Der syrische Außenminister konterte Çavuşoğlus Erklärung mit den Worten: „Auch Hatay gehört uns, das werden wir uns ebenfalls nehmen.“

Bei der Operation um Idlib geht es also nicht nur um Idlib, es geht um Efrîn, Azaz, Çobanbey, Exterin, Cerablus, Bab und 85 kurdische Dörfer, die vom türkischen Staat und seinen Milizen nördlich von Aleppo besetzt sind. Die türkischen Verantwortlichen haben in den vergangenen Tagen begonnen, diese ebenfalls zur Sprache zu bringen. Sie beginnen zuzugeben, dass die Angelegenheit nicht auf Idlib begrenzt ist, sondern auch die unter dem Namen „Schutzschild Euphrat“ besetzten Gebiete sowie Efrîn betreffen wird.