Die Entwicklung der türkisch-syrischen Beziehungen

Die tiefe Krise, in die die türkisch-syrischen Beziehungen mit der türkischen Annexion der Provinz Hatay geraten sind, dauerte mit den Ereignissen von 1957, den Streitigkeiten um Wasser und über die PKK bis zum Adana-Abkommen an.

Generell waren die Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien niemals als „gut“ zu bezeichnen. Die Türkei teilt ihre längste Landgrenze mit Syrien. Auch wenn sich auf beiden Seiten der Grenzen viele Verwandte und Familien wiederfinden, sind die Beziehungen zwischen den Staaten von einem Zickzack-Kurs geprägt. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit sind diese Beziehungen von einem langen Aushandlungsprozess geprägt worden.

Nach Auffassung der Türkei hat Syrien dem „Terror“ Unterschlupf geboten, Probleme wegen der Aufteilung der Wasserressourcen in der Region gemacht und ist überhaupt ein „feindlicher“ Staat, weil er die Integrität türkischen Territoriums bedroht. Aus Syriens Perspektive hat die Türkei die Wasserquellen nicht gerecht aufgeteilt, wurde zur Unterstützerin der Westens, hat syrischen Boden annektiert (Hatay) und ist deshalb ein „Feind“. Beide Staaten nähern sich einander im Allgemeinen unter diesen Vorzeichen an. Auch haben sie auch in den vergangen 70 Jahren nicht davon abgelassen, jeden möglichen Vorteil gegeneinander zu nutzen. So hat die Türkei zum Beispiel immer die Sunniten gegen die in Syrien an der Macht befindlichen Alawiten aufgestachelt und als Druckmittel benutzt.

Mit der Unterzeichnung des Adana-Abkommens 1998 entwickelten sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern relativ gesehen ins Positive. Mit dem Beginn des Syrienkriegs 2011 trat an die Stelle der Beziehungen erneut das Chaos. Die Zeit zwischen 1998 und 2011 wird als die einzige positive Phase der türkisch-syrischen Beziehungen betrachtet.

Bis zum Abkommen von Adana

Syrien hat 1946 seine Unabhängigkeit erklärt. Der Depression, welche die türkisch-syrischen Beziehungen mit der türkischen Annexion der Provinz Hatay erreicht hatten, dauerte mit den Ereignissen von 1957 (Aufmarsch türkischer Truppen an der Grenze zu Syrien während der Eskalation im Konflikt zwischen den damaligen Westmächten und dem sogenannten Ostblock im „Kalten-Krieg“), den Streitigkeiten über Wasser und die PKK bis zum Adana-Abkommen an.

Wie bekannt ist, reiste der kurdische Widerstandsführer Abdullah Öcalan im Juli 1979 über Kobanê nach Syrien und blieb dort lange Jahre. In dieser Zeit entwickelten sich viele institutionelle Beziehungen. Die Syrienpolitik Öcalans ist wahrhaft lehrreich. Öcalan fasste sie so zusammen: „Es ist wichtig, die Bedingungen richtig zu bewerten. Ich habe in Syrien unter sehr schweren Bedingungen Politik gemacht. Wie Sie wissen, wird Assad, ‚Löwe‘ genannt. Zwanzig Jahre lang habe ich auf dem Nacken des Löwen das Gleichgewicht gehalten. Das hat niemand richtig verstanden.“

Eine neue Seite in den Beziehungen wird aufgeschlagen

1998 begann ein neues Kapitel der syrisch-türkischen Geschichte, als in Adana ein gemeinsames Protokoll unterzeichnet wurde. Mit dem Machtwechsel im Jahr 2000 in der Türkei und dem neuen Verständnis von Außenpolitik (Null Probleme mit den Nachbarn) haben sich die türkisch-syrischen Beziehungen auf ein nie da gewesenes Niveau verbessert. Retrospektiv wurde klar, dass diese vermeintliche „Verbesserung“ eigentlich die Zerstörung beinhaltet.

Von 2000 bis 2010

Hier noch einmal eine kleine Chronologie, um die Entwicklungen zwischen den Jahren 2000 und 2011 ins Gedächtnis zu rufen.

* Das Jahr 2001, in dem George W. Bush zum US-Präsidenten gewählt wurde und die Angriffe vom 11. September stattgefanden, kann als das Jahr bezeichnet werden, in dem die internationale Isolierung Syriens beginnt. Die Besetzung des Irak durch die USA und ihre unilaterale Sicherheitspolitik im Mittleren Osten hat Syrien dazu gezwungen, sich mit einigen inneren und äußeren Bedrohungen und zunehmenden Sicherheitsbedenken auseinanderzusetzen. Syrien ist einer der arabischen Staaten der Region, die nur über begrenzte Ölreserven verfügen.

* Syrien, die Türkei und der Iran haben im April 2003 ein Dreierabkommen geschlossen. In dem Abkommen befindet sich die gemeinsame Willensbekundung „einen unabhängigen kurdischen Staat zu verhindern“.

Erster Besuch nach 58 Jahren

* Bashar Assad hat im Januar 2004 seinen ersten Besuch in der Türkei durchgeführt. Es ging ihm bei diesem ersten Staatsbesuch in der Türkei seit 1946 darum, gegen eine mögliche US-Intervention in Syrien gute Beziehungen zu den Nachbarstaaten aufzubauen.

* Im Dezember 2004 reiste der damalige Ministerpräsident Erdoğan dann zwei Tage nach Syrien und sorgte so für eine weitere Annäherung beider Staaten. In Folge der Besuche wurden eine Vergrößerung des Handelsvolumens, eine Erleichterung von Visaangelegenheiten, die Räumung von Minenfeldern entlang der Grenze und ein Freihandelsabkommen beschlossen.

* Als nach dem Attentat auf Hariri im Jahr 2005 der internationale Druck auf Syrien stieg, hat die Türkei unerschütterlich an ihren Beziehungen zu Syrien festgehalten und eine Vermittlungsrolle in den israelisch-syrischen Friedensgesprächen 2008 gespielt.

Freihandelsabkommen

* Die Beziehungen zwischen den Staaten verbesserten sich kontinuierlich und so kam es mit dem Freihandelsabkommen vom 1. Januar 2007 zu einem massiven Anstieg des Handelsvolumens zwischen beiden Staaten von 796 Millionen Dollar im Jahr 2006 auf 2,5 Milliarden Dollar im Jahr 2010.

Verständigung über Visabefreiung

* In Folge des 2009 unterzeichneten Abkommens über Visafreiheit hatte sich die Zahl der touristischen Besuche zwischen beiden Ländern verdoppelt.

Einrichtung eines Rats zur strategischen Verständigung und 50 Abkommen

* Bei seinem Besuch im September 2009 unterzeichneten Assad und Erdoğan ein politisches Dokument, in dem die Gründung eines Rats zur strategischen Zusammenarbeit (YDSK) vorgesehen war. Dies stellt einen weiteren entscheidenden Punkt in der Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Staaten dar. An dem ersten Treffen am 13. Oktober 2009 kamen unter anderem über zehn Minister in Aleppo und Antep zusammen, das erste Treffen auf der Ebene der Ministerpräsidenten fand dann am 23. Dezember in Damaskus statt. Während der Treffen in Antep und Aleppo wurde das Visaabkommen und während des Treffens in Damaskus wurden über 50 weitere Abkommen in Bezug auf Politik, Sicherheit, Gesundheit, Ladwirtschaft, Handel, Energie, Transport, Wasser, Bildung, Wissenschaft, Kultur, Umwelt und einigen anderen Feldern unterzeichnet.

* Am 10. Juni 2010 wurde auf einem Treffen auf Außenministerebene in Istanbul ein Kooperationsrat zwischen der Türkei, Syrien, Jordanien und dem Libanon gegründet.

* Zuletzt wurde am 6. Februar 2011 zur Aufteilung des Wassers der Grundstein für den Asi-Freundschafts-Staudamm gelegt.

Die Beziehungen hatten sich so gut entwickelt, dass Assad in Bodrum Ferien machte. Erdoğan nannte ihn „Bruder“ und sprach ihn überall so an.

Radikale Veränderung nach 2011

Aus der oben dargelegten Chronologie geht hervor, dass die Beziehungen zur Zeit der Regierung der AKP höchstes Niveau erreicht hatten. Nach 2011 fielen sie auf den absoluten Tiefpunkt und es folgten Jahre der schlechtesten Beziehungen zwischen den Staaten. 2011 hat der Bürgerkrieg in Syrien begonnen. Die Demonstrationen fingen am 15. März 2011 an und haben sich im April auf das ganze Land ausgeweitet. Das Volk forderte in dieser Phase Reformen, der syrische Staat begegnete ihm mit Gewalt. Daher begann sich in der Bevölkerung der Wunsch nach einem Umsturz durchzusetzen und sie fing an, sich zu bewaffnen. Durch Kämpfe zwischen den Sicherheitskräften des Staates und der bewaffneten Oppositionsbewegung verwandelte sich die Krise in einen Bürgerkrieg. In vielen Städten schlugen die Regierungskräfte Demonstrationen blutig nieder, die Ereignisse weiteten sich aus. Statt kleinen Gefechten kam es nun zu großen Schlachten. Die ersten großen Gefechte gab es in Homs, Dara und Damaskus und sie weiteten sich rasch auf das ganze Land aus. Die Belagerung von Homs, von Baniyar, von Er-Restan und Telbise, 2011 die Schlacht von Cisr esh-Shughur und die Belagerung von Hama stellten die ersten großen Kriege in den Städten dar.

Internationaler und regionaler Konflikt

Die Syrienkrise hat sich von einem nationalen Konflikt zu einem regionalen und internationalen Konflikt entwickelt, der auf allen drei dieser Ebenen weiter stattfindet. Die Krise hat der Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten im Mittleren Osten den Weg geöffnet und zu einem Kampf zwischen den Akteuren auf der Welt, die Demokratisierungsbewegungen unterstützen, und den Staaten, welche autoritäre Herrschaftsmodelle durchsetzen wollen, geführt. Die Syrienkrise hat auch zu einer Konfrontation zwischen dem Trend, im Rahmen der internationalen Beziehungen bei Menschenrechtsverletzungen Interventionen von außen als notwendig anzusehen und dem Trend, die Souveränität der Staaten zu verteidigen und sich deshalb prinzipiell gegen Interventionen zu stellen, geführt. Aufgrund des Einflusses der alawitischen Minderheit an der Macht, der baathistischen Ideologie, der äußeren Unterstützung für die Assad-Regierung, des zersplitterten schwachen Zustands der Opposition und der Zurückhaltung der westlichen Staaten hat die Syrienkrise einen anderen Kurs angenommen als in den arabischen Staaten, in denen ein Machtwechsel stattgefunden hat.

Intensives Engagement des MIT

Der MIT engagierte sich 2011 intensiv in Syrien. Der MIT-Chef Hakan Fidan nahm an allen Treffen des damaligen Außenministers Ahmet Davutoğlu in jener Zeit teil. Er machte immer wieder neue Vorschläge, die allerdings nicht zur Realität Syriens passten. Die Türkei hängte die Reformforderungen an den Nagel und führte eine 180-Grad-Wende durch. Erdoğan sagte klar, dass der Verhandlungsweg eine Sackgasse sei. Nachdem er seinen ehemaligen engen Freund Bashar Assad zunächst dazu aufgerufen hatte, den Forderungen der Bevölkerung entgegen zu kommen und Reformen durchzuführen, verschärfte Erdoğan seine Haltung kontinuierlich.

Die Türkei wird zur FSA-Basis

Die syrische „Opposition“ eröffnete in Istanbul ein Büro und die Führung der bewaffneten Organisation „Freie Syrische Armee“ wurde in Hatay an der syrischen Grenze untergebracht. Hatay wurde zur Hauptbasis der FSA ausgerufen. Die Mitglieder der FSA erhielten logistische Unterstützung und konnten frei über die türkische Grenze nach Syrien reisen.

Die in einem gemeinsamen Projekt von den USA und der Türkei von Soldaten in der Türkei ausgerüsteten und ausgebildeten FSA-Mitglieder begannen 2015 in Syrien zu kämpfen. Da das Programm aber nicht den erwarteten Erfolg brachte, wurde es kurze Zeit darauf von den USA beendet.

Die Regeln des Engagements ändern sich

Daraufhin gab es noch eine weitere wichtige Entwicklung. Am 22. Juni 2012 erklärte Syrien, ein türkisches Kampfflugzeug abgeschossen zu haben, wobei beide Piloten getötet wurden. Nach einer Untersuchung aus der Ferne wurde klar, dass das Flugzeug aufgrund der Explosion einer Rakete in der Luft außer Kontrolle geraten war. Nach dem Absturz des türkischen Flugzeugs änderte die Türkei die Regeln für ihr Engagement und begann für jede Kugel und jeden Angriff aus Syrien Vergeltung zu üben.

Nach diesem Ereignis nahm auch die Unterstützung der sunnitischen, islamistischen Oppositionellen durch die Türkei deutlich zu. Man begann die internationale finanzielle Unterstützung zu nutzen. Statt vom „Bruder“ sprach man nun vom Feind.

Explosion in Reyhanlı

Am 11. Mai 2013 detonierten in Reyhanlı in der Grenzprovinz Hatay zwei Autobomben und töteten 52 Menschen, fünf von ihnen Kinder, und verletzten 130 Menschen. Die Tat ist immer noch nicht aufgeklärt. Aber im Gedächtnis bleiben die Worte Hakan Fidans, die als Tonbandaufnahme geleakt wurden: „Aus Syrien werden zwei Raketen abgeschossen und wir fangen mit dem Krieg an. Das ist einfach.“

Die geänderte Syrienpolitik der USA blieb nicht auf Syrien beschränkt. Die Beziehungen zu den USA, zu Russland und zum Iran veränderten sich von Grund auf.

Mit dem Krieg in Syrien mussten Millionen Menschen fliehen und kamen in die Türkei. Erdoğan benutzte die Flüchtlinge im Rahmen seiner unmoralischen Politik als Druckmittel. Er forderte von Europa Geld und erpresste die EU. Er sagte bei seiner politischen Erpressung: „Wir lassen sie los und sie werden euch verfolgen“. Damit trug er zu dem Rechtsrutsch in Europa bei.

Einer der zentralen Faktoren der Syrienkrise, welcher von der AKP nicht erwähnt wurde, sind die Kurden. Die eigentliche Sackgasse, welche die AKP zur Veränderung ihrer Haltung zwingt, sind die kurdischen Erfolge. In Rojava wurde ein Durchbruch auf der Grundlage eines „dritten Weges“ geschaffen und so Panik ausgelöst. Die syrische Vernichtungs- und Verleugnungspolitik gegenüber den Kurden kam auf die Tagesordnung. Die dem arabischen Frühling folgenden gewaltigen Erschütterungen brachten die Kurden in eine ganz andere politisch-militärische Position. Die Revolution von Rojava stand vor der Tür. Eine revolutionäre Offensive, welche die ganze Welt erstaunte, isolierte die Türkei massiv auf internationalem Terrain. Ihr wahres Gesicht wurde enthüllt. In diesem Sinn stand beim Thema Syrien nun immer die Frage, wie die Kurden zu vernichten seien, im Hintergrund. Der Independent-Autor Patrick Cockburn hat in seinem Text mit der Überschrift „Ist die Türkei dabei, sich selbst zu zerstören?“ Ankaras Syrienpolitik als „vollständiges Fiasko“ beschrieben. Das eigentliche Fiasko ist jedoch Ankaras Kurdenpolitik.