Kobanê und Raqqa im Visier der Türkei
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ruft die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union dazu auf, den türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdoğan davon abzuhalten, einen Großangriff auf Kobanê und Raqqa zu starten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die sich heute in der Türkei aufhält, müsse bei ihrem Gespräch mit Erdoğan „alles dafür tun“, um einen Angriff auf die beiden Städte zu verhindern, forderte die in Göttingen ansässige Organisation am Dienstag. Seit Tagen drohen pro-türkische Dschihadisten und türkische Politiker mit einer „Erstürmung“ von Kobanê und Raqqa.
In Kobanê und Raqqa, zwei Metropolen, die zur Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) gehören, haben in den vergangenen Wochen rund 200.000 Vertriebene Zuflucht gefunden. Im Falle einer erneuten türkischen Aggression würden diese Menschen, die erst jüngst im Zuge der Besetzung von Tel Rifat und Minbic durch die Türkei-gesteuerte Dschihadistenallianz SNA vertrieben wurden, und Hunderttausende weitere dort lebende Angehörige der kurdischen, christlichen, armenischen, ezidischen und alevitischen Gemeinschaften, aber auch sunnitische Muslime, die ein islamistisches Regime in Syrien ablehnten, erneut fliehen müssen.
„Ein türkischer Angriff wäre eine humanitäre Katastrophe und das Aus für eine pluralistische Zukunft Syriens“, warnte Dr. Kamal Sido, Nahostreferent der GfbV. Die kurdische Stadt Kobanê sei eine „Symbolstadt“ im Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), der maßgeblich von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) geführt wurde. Und Raqqa, die ehemalige Hauptstadt des IS, wurde von den Kurd:innen unter großen Opfern befreit, ergänzte Sido.
Auch der IS würde durch die türkischen Angriffe gestärkt, ist sich der Nahostreferent sicher. Zudem könnten etwa 11.000 IS-Mitglieder aus den Gefängnissen in der DAANES ausbrechen und über die Türkei nach Deutschland und Europa kommen. „Wenn IS-Mitglieder aus Gefängnissen in Nordsyrien ausbrechen und nach Deutschland kommen, steigt auch hier die Gefahr islamistischer Anschläge, beispielsweise auf Weihnachtsmärkte. Deutsche Politiker, die diese Gefahren nicht sehen und Erdoğan unterstützen, handeln verantwortungslos und gefährden das Leben der Menschen in Deutschland“, so der Menschenrechtler.
Zudem kritisiert der GfbV-Nahostreferent die Entsendung eines deutschen EU-Diplomaten nach Syrien. „Seit Jahren fordern wir, dass Deutschland und die EU den Kurden, die in Nordsyrien gegen den IS kämpfen, humanitäre Hilfe leisten. Mit der Begründung, dass die kurdische PKK von der Türkei und ihren Unterstützern als Terrororganisation eingestuft wird, wird dies abgelehnt. Für Deutschland und die EU gelten die Demokratischen Kräfte Syriens als PKK-nah. Dass die islamistische HTS, die inzwischen weite Teile Syriens kontrolliert, auf der UN-Terrorliste steht, scheint kein Problem zu sein“, kritisierte Sido.
Foto: Demonstration unweit des Denkmal auf dem Qada Jina Azad, dem Platz der freien Frau in Kobanê, Archivbild © ANF