Im zweiten Teil der Interviewreihe für das Format „Şervanên Azadiyê“ beschreibt der deutsch-portugiesische Guerillakämpfer Baran Nûjiyan das Leben in den Bergen Kurdistans. Es sei ein Ort, der dem Kennenlernen des Lebens und der eigenen Persönlichkeit diene. Mit der Bedeutung der Selbstfindung entfalte sich auch die Schönheit des Lebens und der Wert zu wissen: Die Berge sind ein Ort, an dem mit unzähligen Freundinnen und Freunden ein gemeinsamer Kampf geführt wird. „Es ist eine neue Art des miteinander Umgehens, eine neue Art des gemeinsamen Kämpfens. Es ist eine neue Form der Beziehung, die wir führen – immer darauf gepolt, das Gegenüber zu stärken und Kraft zu geben.“
Das in uns selbst finden, was uns mit allen anderen verbindet – in liberal geprägten Gesellschaften wie der mitteileuropäischen fehlt die Basis, resümiert Baran Nûjiyan. „In meinem Leben konnte ich zusehen, wie diese Entwicklung sich weiter vervielfältigt: Dass wir einander nicht mehr die Wahrheit sagen können. Wir können einander nicht die Meinung sagen, wir flüchten uns vor Auseinandersetzungen. Der Kurs hier ist ein ehrlicher Umgang. Weil wir ein gemeinsames Ziel und ein gemeinsames Interesse haben, diese Revolution nach vorne zu bringen. Daher haben wir auch ein gemeinsames Interesse daran, unsere Freunde zu stärken. Wenn wir Fehler an ihnen sehen, wenn wir Schwächen bei ihnen sehen, können wir sie offen ansprechen. Weil wir eine Basis haben, auf der unsere Gemeinschaft beruht. Das ist es, was in Mitteleuropa vor allem fehlt: Die gemeinsame Basis und die gemeinsamen Werte, für die wir einstehen. Werte von Menschlichkeit, die in meinem Aufwachsen immer ihres Inhalts beraubt, nie ganz klar und diffus waren. Jeder hat vielleicht seine eigene Interpretation, aber wirklich starke Werte, die auch praktisch im Leben mit Inhalt und Bedeutung gefüllt werden, habe ich hier kennengelernt.“
Fast schon wehmütig blickt Baran Nûjiyan auf seine Ankunft vor drei Jahren in den Bergen Kurdistans zurück. „Ich bin angekommen.“ Aber hätte er doch vorher gewusst, wie das Leben hier ist, hätte er sich nicht alleine auf den Weg gemacht. „Man sitzt hier und weiß: Wir gehen hier Schritte, die eine Antwort sind auf die Frage und die Probleme, denen sich Tausende ausgesetzt fühlen. Natürlich hat man dann ein Interesse daran, das erlebbar und verständlich zu machen. Und natürlich ist es auch wieder so, dass wir weit weg sind von der Realität. Dieses Leben ist sehr weit entfernt von dem Leben in den Metropolen in Mitteleuropa. Es geht darum, und das ist ja auch der Ansatz; nicht nur durch grobe Veränderungen der Machtstrukturen, durch Übernahme eines Staates oder Ähnlichem Veränderungen herbeizuführen. In einer sozialen Revolution geht es darum, den Menschen das Menschsein wiederfinden zu lassen. Was haben wir in über 5.000 Jahren Herrschaftsgeschichte an Menschlichkeit verloren? Wo sind Werte verloren gegangen? Wir finden wir zu diesen zurück, also zu unserer Natürlichkeit? Darum geht es eben.“
Natürlich wolle er dieses Glück mit anderen teilen, fährt Baran Nûjiyan fort. „In den Bergen begegnet man jederlei Nation und jederlei Sprache wird gesprochen. Das bestätigt ja irgendwo genau das, worum es geht: die demokratische Nation, das friedliche Zusammenleben und der gemeinsame Kampf für Freiheit von Menschen mit den verschiedensten Hintergründen, die hier zusammenkommen und im Respekt der Unterschiedlichkeiten eine gemeinsame Kraft entwickeln, den Wert in der Vielfältigkeit zu sehen.“ Ehrwürdig erinnert Baran Nûjiyan an Vorangegangene aus verschiedenen Ländern, die sich schon in den 1990er Jahren dem Kampf in den Bergen Kurdistans angeschlossen und ein Erbe hinterlassen haben. Internationalistische Kämpferinnen und Kämpfer, unzählige allein aus Deutschland, die im Widerstand ihr Leben ließen und einen Weg öffneten. „Da erfahren wir, dass es möglich ist, sich diesem Kampf anzuschließen. Als ich erstmals von der Revolution in Rojava gehört habe und langsam die Bewegung kennenlernte, war die Frage und die Überlegung erstmal: Wo kann ich meine Rolle finden und kann ich überhaupt eine Rolle finden? Kann ich von weitem nur Zuschauer sein? Das ist es, was vor allem durch die Arbeit von Freunden, die vor mir gegangen sind, möglich wurde. Zu wissen: wir können gehen, wir können Teil sein, wir können eine Rolle spielen.“
Diesem Weg wurden große Beispiele gesetzt. Menschen wie Andrea Wolf (Ronahî), Michael Panser (Bager Nûjiyan), Jakob Riemer (Şiyar Gabar), Sarah Handelmann (Sara Dorşîn), die in den Bergen fielen, und wiederum andere, die im Krieg um Rojava ihr Leben ließen waren es, die große Schritte gegangen, einen großen Kampf aufgebaut und damit alle Türen geöffnet haben. „Daran sieht man auch die eigene Verantwortung, diesen Kampf weiterzuführen und das Werk, das die Freunde angefangen haben, fortzuführen“, sagt Baran Nûjiyan. Dies mit dem generellen Umgang zur Grundlage, einen gemeinsamen Kampf zu führen. „Es geht nicht darum, dass wir zu einem System werden für die Suche individueller Befriedigung oder des individuellen Glücks. Es geht um ein gemeinsames Ziel und darum, als Individuum Teil des gemeinsamen Kampfes zu werden. Und darum eins zu werden.“ Gegenüber den Gefallenen fühle er sich verpflichtet. „Sie haben dem Kampf mit ihrem Leben Bedeutung gegeben und unsere Aufgabe ist, das weiterzuführen. Es sind auch unzählige Freunde, die wir uns als Beispiel nehmen, die mit ihren Charakteren und den Spuren, die sie überall hinterlassen haben. An ihnen nimmt man sich immer wieder ein Beispiel. Man möchte diesem Kampf gerecht werden.“
Der dritte und letzte Teil der Interviewreihe erscheint morgen.