Anschlag von Paris: Details, die Fragen aufwerfen

Ein Franzose schießt mitten in Paris gezielt auf kurdische Menschen, tötet drei und verletzt ebenso viele, und landet in der Psychiatrie. Die bislang ans Licht gekommenen Details werfen immer mehr Fragen auf, der Journalist Amed Dicle stellt sie.

Am 23. Dezember ist in der französischen Hauptstadt Paris ein weiterer geplanter Anschlag auf Kurd:innen verübt worden. Unter den Todesopfern befindet sich eine Politikerin, die sich 34 Jahre lang für die Rechte des kurdischen Volkes einsetzte, und in Nordsyrien als Kommandantin gegen den IS kämpfte. Bei den beiden anderen Ermordeten handelt es sich um einen Künstler und einen älteren Kurden, der seine Heimat vor Jahrzehnten verlassen musste, um nicht in türkischen Knästen zu verrotten.

Die Kurd:innen, ihre Freund:innen und andere Betroffene sind zu Recht wütend über diesen brutalen Angriff. Sie sind entrüstet, weil ohnehin jeden Tag Menschen in den Bergen, Dörfern und Tälern Kurdistans ermordet werden. Es ist unerträglich, dass sie mitten in Europa auf diese Weise niedergemetzelt werden. In Situationen wie diesen setzen sich Kurd:innen zur Wehr. Unweigerlich gilt die Devise: „Wir sind keine Opferlämmer“ und „Unser Blut ist nicht billig!“

Unmittelbar nach dem Anschlag gab es erste Reaktionen der französischen Behörden und der Weltöffentlichkeit. Die Kurd:innen erwarten jedoch, dass dieser Anschlag aufgeklärt wird, denn sie haben berechtigte Sorgen an dieser Front. Am 9. Januar 2013 wurden die kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansız, Leyla Şaylemez und Fidan Doğan ermordet – ebenfalls in Paris, ebenfalls an einem Tag. Der Mörder war ein vom türkischen Geheimdienst ausgebildeter Auftragskiller. Doch die französische Justiz und der Staatsapparat gaben sich keine Mühe, diesen Mord aufzuklären, ganz im Gegenteil. Bestimmte Dokumente wurden unter Verschluss gehalten und als „Staatsgeheimnis“ eingestuft. Welcher Staat? Welche Geheimnisse? Warum sollte die Ermordung von drei Frauen ein Staatsgeheimnis sein? Kurd:innen sind besorgt, dass das Massaker vom 23. Dezember das gleiche Schicksal erleiden wird wie der Fall vom 9. Januar. Diese Befürchtung macht sie noch wütender.

Mehrere Tage sind seit dem Attentat vergangen. Und doch sind noch immer zahlreiche Fragen offen:

1-Der Angreifer wurde am 12. Dezember aus dem Gefängnis entlassen. Er hätte unter polizeilicher Aufsicht stehen müssen; wie also gelang es ihm, diesen Anschlag innerhalb von zehn Tagen zu planen?

2-Woher hatte er die Schusswaffe und so viele Patronen? Wie kam er mit einer Tasche voller Munition von seiner Wohnung zu der Straße, auf der der Anschlag verübt wurde?

3-Es heißt, der Täter sei mit einem Auto zum Tatort gefahren. Wessen Auto war das? Wer hat ihn dort abgesetzt?

4 - Zum Zeitpunkt des (ersten) Angriffs auf das Ahmet-Kaya-Kulturzentrum sollte dort eine Versammlung mit etwa 60 Personen stattfinden. Wusste der Angreifer von diesem Treffen, das anlässlich des Jahrestages des Massakers vom 9. Januar stattfinden sollte? Falls dem so ist, woher hatte er die Informationen? Hatte er so viel Munition bei sich, weil er von der Versammlung gewusst hat?

5-Kannte der Angreifer die kurdische Politikerin Evîn Goyî (Emine Kara), sodass er in erster Linie auf sie zielte und zu ihr zurückkehrte, um weitere Kugeln auf sie abzufeuern, nachdem er sich zuvor ein Stück entfernt hatte?

6-Nach den Schüssen vor dem Kulturzentrum griff der Täter das Avesta-Café auf der anderen Seite der Straße an. Hatte er es auf dieses Geschäft abgesehen, weil er wusste, dass der Besitzer auch im Vorstand des kurdischen Kulturzentrums sitzt?

7-Anschließend wandte sich der Angreifer einem nahegelegenen Friseurladen zu. Die dortigen Mitarbeiter sind ebenfalls mit dem kurdischen Verein verbunden. Wenn das Motiv des Täters rassistisch gewesen sein soll, warum bemühte er sich dann bis zu dem rund 100 Meter entfernten Barbiershop, obwohl es dazwischen noch andere Geschäfte gibt?

8-Zusammenfassend: Wenn der Täter aus rein rassistischen Motiven heraus gehandelt hat, warum hat er nur Kurd:innen angegriffen? Warum hat er sich nur Personen aus einem bestimmten Kreis der kurdischen Community als Angriffsziel ausgewählt?

9-Ist es nicht klar, wenn man die obigen Fragen als Ganzes betrachtet, dass dies kein gewöhnlicher Angriff war, und nicht der einer einzelnen Person, sondern die Arbeit eines professionellen Teams?

10 -Eine einfachere Frage: Gibt es eine Person oder Personen innerhalb des französischen Staatsapparats, die damit in Verbindung stehen? Da wir keinen Zweifel daran haben, dass der türkische Geheimdienst hinter dem Anschlag steckt, machen wir uns nicht die Mühe, diese Frage zu stellen.

11-Warum wird uns nicht gesagt, mit wem der Angreifer inhaftiert war, als er bis zum 12. Dezember im Gefängnis saß. Waren IS-Mitglieder unter ihnen?

12-Aus welchem Grund saß der Attentäter im Gefängnis und wieso wurde er überhaupt freigelassen? Warum erlaubte sein Gesundheitszustand die Inhaftierung, wenn sie doch nach dem Anschlag auf die kurdische Gemeinde eine Unterbringung in einer Psychiatrie erforderte?

13-Und die letzte Frage: Die Kurd:innen und ihre Freund:innen organisierten am 24. Dezember eine Kundgebung auf der Place de la République. Ein weißer Kleinbus fuhr mitten durch diese Zusammenkunft und ein Insasse zeigte währenddessen den Wolfsgruß. Es ist das Zeichen türkischer Rassisten, der sogenannten „Grauen Wölfe“, und ein Symbol der Feindseligkeit gegenüber Kurd:innen. Danach kam es zu Ausschreitungen und unangenehmen Szenen. Wie kam der Kleinbus dorthin? War ein weiteres Massaker geplant oder handelte es sich um einen Akt der Provokation, um die Kurd:innen zu kriminalisieren?

14-Der türkische Innenminister Süleyman Soylu sagte in Anspielung auf den Anschlag von Paris: „Tayyip Erdogan wird nicht nur die Terroristen in der Türkei neutralisieren, sondern alle Terroristen in der Welt.“ Wird sich dieser Satz in der Ermittlungsakte finden lassen? Schließlich fallen alle Kurdinnen und Kurden in den Augen von Soylu und der türkischen Regierung in die Kategorie „terroristisch“.

Evîn Goyî war Befehlshaberin im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) in Nordsyrien. Sie wurde dort mehrfach verwundet und kam nach Frankreich, um sich wegen bleibender Verletzungsfolgen behandeln zu lassen. Sie befand sich in medizinischer Behandlung, setzte sich aber weiterhin für die kurdische Frauenbewegung ein. Ihr Antrag auf politisches Asyl wurde von den französischen Behörden abgelehnt. Warum eigentlich? Warum hat Frankreich dem Erdoğan-Regime den Weg geebnet, um Evîn Goyî ins Visier zu nehmen, obwohl der türkische Staat sie mittels einer sogenannten Red Notice bei Interpol suchen ließ? Aus welchen Gründen und zu wessen Gunsten?


Der Artikel von Amed Dicle erschien im Original bei Medya News