Die Türkei zieht sich heute offiziell aus der Istanbul-Konvention zurück. Für die HDP-Abgeordnete Züleyha Gülüm ist dieser Schritt wie alle Angriffe auf die erkämpften Rechte von Frauen eine logische Konsequenz der von Erdogan angestrebten Institutionalisierung des Faschismus.
Der türkische Präsident hatte den Austritt aus dem internationalen Frauenschutzabkommen im Frühjahr per Dekret angeordnet. Heute tritt der Rückzug offiziell in Kraft, obwohl sich laut einer im Juli 2020 veröffentlichten Erhebung des Umfrageinstituts MetroPOLL selbst 49,7 Prozent der AKP-Wählerschaft gegen die Aufkündigung der Konvention ausgesprochen hat.
Züleyha Gülüm ist von Beruf Rechtsanwältin und hat Hunderte von Gewalt betroffene Frauen juristisch vertreten. Unter ihren Mandantinnen waren Nevin Yildirim, die wegen Mord an ihrem Vergewaltiger zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt wurde, und Yasemin Çakal, die zur Selbstverteidigung ihren systematisch gewalttätigen Ehemann tötete. Heute bringt die HDP-Abgeordnete die Fälle von Frauen ins Parlament ein - Frauen, die noch leben könnten, nicht verletzt worden wären oder nicht in Notwehr hätten töten müssen, wenn die Istanbul-Konvention umgesetzt worden wäre. Dazu hat sie sich im ANF-Interview geäußert.
Ist die Istanbul-Konvention ein Abkommen, das Gewalt an Frauen verhindert?
Die Konvention ist von Frauen erkämpft worden. Wenn sie umgesetzt worden wäre, hätte sie männliche und staatliche Gewalt gegen Frauen in großem Ausmaß verhindern können. Sie kann Gewalt nicht gänzlich abschaffen, aber ein ernstes Hindernis darstellen.
Was macht diese Konvention aus?
Sie betrifft nicht nur die Justiz. Wir fordern ja beispielsweise: Keine Männerjustiz, sondern ein wirkliches Rechtssystem. Die Istanbul-Konvention verpflichtet den Staat, männliche Gewalt in der Gesellschaft zu bekämpfen, bevor sie passiert und vor Gericht kommt.
Was sind diese Verpflichtungen?
Das Abkommen besagt: Ändere die gesellschaftliche Struktur, stelle Bildungsgerechtigkeit für Frauen und Männer her. Das gilt auch für die Bereiche Gesundheit, Unterkunft und Medien, eigentlich für alle Lebensbereiche. Dafür gibt es viele verschiedene Verpflichtungen wie eine Geschlechterquote, eine gleichberechtigte Repräsentation in der Politik und den Aufbau eigener Entscheidungsmechanismen.
Was waren Ihre Erfahrungen als Rechtsanwältin beim Thema Gewalt gegen Frauen?
Ich habe dafür gekämpft, dass die Konvention wirklich angewandt wird, aber das war in der Zeit vor der heutigen Debatte um den Austritt. Diese Regierung hat sich immer offensiv dafür eingesetzt, unsere Errungenschaften zu zerschlagen. Vor der Diskussion um die Istanbul-Konvention gab es ja bereits Debatten über das Recht auf Abtreibung und Unterhalt.
Warum trifft die AKP derartig aggressive Beschlüsse gegen Frauen?
Es findet ein Prozess statt, mit dem alle von Frauen erkämpften Rechte rückgängig gemacht und Frauen zwischen vier Wänden eingesperrt werden sollen. In meiner Zeit als Rechtsanwältin habe ich häufig erlebt, dass Frauen ermordet worden sind, die einen Beschluss für ihren Schutz vor Gewalt in der Tasche hatten. Es sind Frauen ermordet worden, die während ihrer Scheidung unter Polizeischutz standen. Ich hatte zahlreiche Fälle, in denen Frauen nicht geschützt wurden, obwohl sie etliche Anträge gestellt und immer wieder gesagt haben: Er wird mich ermorden. Es gibt auch Frauen, die selbst töten müssen, weil sie vom Staat nicht geschützt werden. Diese Frauen werden zu sehr harten Strafen verurteilt. Männliche Gewalttäter hingegen können das Gefängnis meist schnell wieder verlassen.
Es handelt sich dabei um die Bemühungen zur Installierung eines neuen Regimes. Diese Bemühungen beobachten wir in allen Bereichen. Es gibt keine funktionierende Justiz und keine Gerechtigkeit. Die Regierung hat früher zumindest versucht, ihr eigenes unrechtmäßiges Handeln zu vertuschen. Sie hat es nicht zugegeben und als gerechtfertigt dargestellt. Heute ist das anders, es wird ganz offen zum Ausdruck gebracht, dass die Justiz ausgesetzt ist. Sie sagt zum Beispiel öffentlich, dass sie Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ignoriert und inländischen Gerichten Befehle erteilt. Das Gesamtbild zeigt, dass eine neue Regierungsform entstanden ist. Demokratische Rechte werden beschränkt, Arbeiterrechte werden in ein System der Versklavung umgewandelt. Dem kurdischen Volk ist der Krieg erklärt worden. Wir haben es mit einer Regierung zu tun, die Krieg gegen unsere Errungenschaften führt und sie vernichten will. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Regierung den Faschismus institutionalisieren will.
Was für ein Frauenbild will die Regierung erschaffen?
Das Frauenbild der Regierung entspricht ihren eigenen Vorstellungen. Sie redet von der „heiligen Familie“ und will ein Modell erschaffen, in dem Frauen nicht laut werden, keine Rechte einfordern und sich dem Männersystem unterwerfen. Bei uns passiert dasselbe hinsichtlich der Position von Frauen, was Regierungen weltweit tun, wenn sie den Faschismus institutionalisieren wollen.
Hat das auch etwas mit der Stärke der Frauenbewegung zu tun?
Der Frauenkampf ist sehr stark und es hat zu keiner Zeit einen Rückzug gegeben. Auch während des Ausnahmezustands waren Frauen auf der Straße. Sie haben sich selbst zu Zeiten harter Repression nie zurückgezogen und immer ihre Rechte eingefordert. Gerade deshalb will die Regierung die Frauenbewegung eliminieren, um ihre eigene Herrschaftsform im Land zu etablieren.