Şera Osê, Mitglied des Exekutivrats des Demokratischen Syrienrats (MSD), sprach mit ANF aus Frauenperspektive über den Verfassungsentwurf der Übergangsregierung in Damaskus.
Der Sturz des Baath-Regimes am 8. Dezember 2024 weckte im syrischen Volk und den syrischen Frauen die Hoffnung auf Freiheit. Allerdings hat die neue Regierung, die aus der dschihadistischen Gruppe „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS) hervorgegangen ist, in diesem Sinne bisher keine Veränderungen mit sich gebracht. Im Gegenteil, sie verhinderte die Massaker an den Alawit:innen in den vergangenen Wochen nicht, und scheint konfessionelle Spannungen in keiner Weise zu entschärfen. Am 13. März 2025 verkündete die Übergangsregierung einen Verfassungsentwurf, in dem keine Frauenperspektiven vertreten sind. Şera Osê, Mitglied des Exekutivrates des Demokratischen Syrienrates (MSD), sprach darüber mit ANF.
Für Syrien wird eine neue Landkarte gezeichnet
Şera Osê erläuterte die sensible Situation, in der sich Syrien seit dem Umsturz befände. In Syrien werde nun eine neue Landkarte gezeichnet. Nachdem die Bevölkerung, insbesondere die Frauen, so viel gelitten hätten, habe der Sturz Hoffnung geweckt. Das Baath-Regime habe Gewalt gegen die Gesamtheit der Frauen ausgeübt und sie von allen Bereichen der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie hätten beispielsweise im Schulsystem keine höheren Abschlüsse absolvieren können. „Das Bewusstsein, dass es für eine Frau beschämend ist, hinauszugehen und sich weiterzuentwickeln, war in der Gesellschaft sehr tief verankert. Daher war der Sturz des männlich-dominierten Regimes insbesondere für Frauen ein Anlass der Freude und Hoffnung“, sagte Şera Osê.
Frauen – Kraft der gesellschaftlichen Veränderung
Die Hoffnung auf Veränderung sei bei den Frauen in Syrien seit dem Beginn der Revolution in Rojava geweckt worden. Diese wurde zu einem regelrechten Funken der Freiheit der Frau. Da das Staatssystem im Sinne der patriarchalen Männlichkeit aufgebaut worden sei, sei deren Geist bis dato unterdrückt worden. In Nord- und Ostsyrien seien die Frauen jedoch die große Kraft der Revolution geworden, betonte Şera. Frauen hätten durch ihren Kampf viele Veränderungen durchsetzen können, sich gegen die Banden des selbsternannten „Islamischen Staates“ gestellt und ihn schließlich besiegt. „Frauen wurden zum Symbol der Veränderung in allen Bereichen der Gesellschaft und die Frauen der Region Nord- und Ostsyrien wurden zu einem Vorbild für alle Frauen auf der Welt“, so Osê.
Frauen müssen an der neuen Verfassung mitwirken
Şera Osê kritisierte den vergangene Woche vom Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa unterzeichneten Verfassungsentwurf. Sie betonte, dass die Frauen, denen die neue Regierung heute ihre Rechte nehmen wolle, nicht mehr die Frauen von früher seien: „Es sind freiheitsliebende Frauen und Vorreiterinnen der Rojava-Revolution, welche auch als Frauenrevolution bekannt wurde. Deshalb leisten Frauen Widerstand, wenn ihre Rechte angegriffen werden. Diese Verfassung ist inakzeptabel,“ so Şera Osê.
Die Einbeziehung der Frauen in die Gesellschaft habe einen großen Wandel im Nahen Osten bewirkt, hob sie hervor. „Diese neue Regierung mit ihrer radikalen religiösen Ideologie möchte die Frauen wieder in ihren alten Zustand versetzen. Dies gelingt ihr aber nicht“, so Osês Analyse der veränderten Situation in der syrischen Gesellschaft. In der neuen syrischen Verfassung müssten die Frauenrechte verankert sein, und auch das in Nord- und Ostsyrien erprobte System des Ko-Vorsitzes sei dabei wichtig. Osê ist sich sicher, dass die neue Regierung das syrische Volk ohne Frauenrechte nicht werde regieren können.
Alle Gesellschaftsgruppen sollten gegen die Verfassung protestieren
Der Verfassungsentwurf repräsentiere Frauen nicht, und nach so vielen Jahren des Kampfes sei eine solche Verfassung für Frauen nicht mehr akzeptabel, meinte Şera Osê. Frauen müssten bei der Ausarbeitung einer Verfassung mitwirken. Ihre Perspektive sollte außerdem nicht nur theoretisch festgehalten werden: „Wir wollen dies auch in der Praxis, damit eine Gesellschaft mit einer Frauenperspektive entstehen kann. Denn Frauen sind das Fundament von Freiheit und Demokratie.“
Zum Abschluss erklärte Şera Osê, dass alle gesellschaftlichen Gruppen in Syrien berücksichtigt werden und die syrische Verfassung neu geschrieben werden müsse: „Insbesondere die Frauen jeglicher Gemeinschaften müssen diese Verfassung ablehnen und gegen diese Politik rebellieren. Wir dürfen es nicht hinnehmen, erneut einer patriarchalen und ausschließenden Ideologie unterworfen zu werden.“