„Sie haben uns großes Leid angetan“

Tesire Sulaiman ist 20 Jahre alt und eine der Ezidinnen, die im August 2014 nach dem Überfall auf Şengal von dem sogenannten IS verschleppt und ausgebeutet wurden. Nach über vier Jahren in Gefangenschaft ist sie nun frei und spricht über ihr Martyrium.

Seit die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) im September 2018 ihre Offensive „Gewittersturm Cizîrê“ wieder aufgenommen haben, sind etliche Menschen aus der Gefangenschaft der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) gerettet worden. Insbesondere seit Beginn der finalen Operation zur Zerschlagung der Miliz, die von den QSD in ein überschaubares Gebiet in das syrisch-irakische Grenzdorf al-Bagouz südöstlich von Hajin gedrängt wurden, konnten viele der im August 2014 bei dem Überfall auf Şengal verschleppten Ezidinnen und Eziden befreit werden. 

Zwei von ihnen sind die Frauen Tesire Sulaiman und Edibe Mirad Milko. Nach viereinhalb Jahren in Gefangenschaft sind die beiden Ezidinnen nun in Freiheit und werden von den YPJ betreut und versorgt.  

Edibe Mirad Milko ist 22 Jahre alt. Sie stammt aus Xanesor (Khana Sor), einer kleinen Stadt in Şengal, die zu den umstrittenen Gebieten des Nordiraks gehört. Bei dem Spezialeinsatz der QSD wurden neben ihren beiden Kindern noch vier weitere ezidische Kinder aus der IS-Gefangenschaft befreit.

Mit 15 verschleppt, mit 20 befreit 

Wir widmen uns der Geschichte von Tesire Sulaiman. Die heute 20-jährige Ezidin stammt aus Koço, einem Dorf in Şengal, das am 15. August 2014 fast vollständig ausgelöscht wurde. Zu dem Zeitpunkt zählte Koço mehr als 1.800 Bewohner*innen. Bei dem Massaker durch den IS wurden etwa 600 ezidische Jugendliche und Männer enthauptet, einige sind auch erschossen worden oder wurden bei lebendigem Leib verbrannt, weil sie sich weigerten, zum Islam zu konvertieren. Fast 700 Frauen und rund 300 Kinder wurden aus Koço verschleppt und sexuell ausgebeutet beziehungsweise zu Kindersoldaten ausgebildet.

Mutter und Bruder bei Massaker hingerichtet

Tesire Sulaiman erzählt, dass ihre Mutter und ihr Bruder beim IS-Einfall in Koço vom IS getötet wurden. Sie selbst war 15, als sie gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester verschleppt wurde. Nur zu gut kann sie sich an das Massaker erinnern: „Bei dem Überfall auf Şengal wurden wir gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Man würde uns dann in Ruhe lassen. Weil wir uns weigerten, erlebten wir den schlimmsten Angriff auf Şengal. Sie brachten uns in die Schule, dort trennten sie die Männer von den Frauen und den Kindern. Auf einem nahegelegenen Platz wurde den Männern ein letztes Ultimatum gestellt, doch noch zu konvertieren. Sie weigerten sich und wurden hingerichtet.

Wir fragten, woher die Schüsse kommen. Die Islamisten sagten uns, wir sollten uns nicht fürchten, es sei auf Hunde geschossen worden. Als die Frauen dann auf das Schuldach kletterten und in Richtung der Männer blickten, fingen sie zu weinen an und zu schreien“.

Wehklagen und Schreie der Frauen

Nach dem Massaker in Koço wurden die verheirateten Frauen von den anderen getrennt. Die jungen Mädchen und ledigen Frauen brachte der IS zunächst ins Zentrum von Şengal. Später kamen die Mütter der Mädchen nach, berichtet Tesire. „Dort haben die Islamisten die Mütter von ihren Töchtern getrennt. Ihre Wehklagen und ihre Schreie hätten anderswo die Erde zum Beben gebracht. Jedes Kind ist seiner Mutter entrissen worden, alle Mädchen und Frauen zwischen sieben und 30 Jahren wurden weggebracht. Wir kamen nach Mosul, andere gingen nach Syrien. Die Frauen weinten fürchterlich, weil sie zurück nach Şengal wollten. Die Dschihadisten sagten uns: ‚Fürchtet euch nicht, ihr bleibt bei uns und werdet Muslima‘, aber die Frauen wollten einfach nur zurück“, erinnert sich Tesire.

Zehnmal „verheiratet“

„Es ist ein unvorstellbares Leid, das über uns gebracht wurde“, fährt die junge Frau fort. „Einer nach dem anderen suchte sich eine von uns aus und fiel über uns her. Es waren schreckliche Augenblicke des Schmerzes, die ich nie vergessen werde. Sie haben uns großes Leid angetan“.

Nach Mosul brachte der IS die verschleppten Ezidinnen in die nordirakische Stadt Tal Afar, später ging es nach Raqqa, al-Mayadin und schließlich nach al-Bagouz. Zehnmal sei Tesire in den viereinhalb Jahren verheiratet worden. In den letzten Tagen in IS-Gefangenschaft habe ihr eine arabische Frau geholfen. So konnte sie sich unter die von den QSD evakuierten IS-Angehörigen mischen.  

Noch viele Ezidinnen in Gefangenschaft

Auf die Frage, ob sie Informationen aus Koço habe, antwortet Tesire: „Ja, sofern ich die Möglichkeit hatte, guckte ich mir Videos auf dem Handy an. Ich weiß, dass einige Überlebende des Massakers zurückgekehrt sind. Allerdings weiß ich nicht, um wen es sich handelt“.

Noch immer seien etliche Ezidinnen in Gefangenschaft, berichtet sie weiter. Sie habe mindestens 30 Ezidinnen gesehen, darunter sei auch ihre Schwester gewesen. „Bei dem Großteil dieser Frauen handelt es sich um Ezidinnen aus Koço und Til Ezer [al-Qahtaniyya]“, ist sich Tesire sicher.

Zurück nach Şengal, nicht nach Koço

Eine letzte Frage beantwortet Tesire noch; ob sie zurück nach Koço wolle. „Ich möchte es nicht. Ich würde es nicht ertragen, dort zu leben. Alle Menschen, die mir nahestanden, wurden in Koço getötet. Ich kann nicht einfach zurück“. Nach Şengal werde sie aber in jedem Fall gehen. „Ich habe die Erde in Şengal vermisst“, sagt Tesire.