Halime Mihemed Osman geht es gut. Kraftvoll und aufmerksam sitzt sie vor uns. An einem Ort, der unbekannt bleiben muss. Weil sie sonst erneut ins Visier des türkischen Staates gerät. Sie kann sich kaum bewegen, muss jeden ihrer Schritte gut überlegen.
Am 19. April 2024 hatten wir zuletzt von Halime berichtet, einen Tag nachdem eine türkische Drohne versucht hatte, sie zu ermorden. Sie war gemeinsam mit ihrem Mann gerade ins Auto gestiegen, als die Drohne einschlug. Ihr Mann blieb nahezu unverletzt, sie kam schwer verwundet ins Krankenhaus. Ein Anschlag, der ohne jeden Zweifel ihr galt. Sie war zu jenem Zeitpunkt Sprecherin der Frauenorganisation Sara. Der Organisation, die sich tagtäglich mit schweren Gewaltverbrechen gegen Frauen auseinandersetzt.
Wenn wir ihr heute gegenüber sitzen, dann fällt auf den ersten Blick nicht ins Auge, dass sie vor einem halben Jahr einen solch schweren Angriff überlebte. Sie schaut uns kraftvoll in die Augen, freut sich uns zu sehen und bringt uns eine Menge Vertrauen entgegen.
Erst auf den zweiten Blick werden ihre Verletzungen sichtbar. Sie verlor das rechte Bein, es musste amputiert werden. Ihre linke Hand ist steif. Die Verbrennungen im Gesicht sind nicht mehr sichtbar, ihre Haut wirkt robust, sie wirkt weder gealtert noch erschöpft.
Sie zeigt uns Bilder von ihren Therapiestunden, macht täglich Fortschritte mit der Prothese.
„Wenn ich Zeit habe, dann lese ich, bilde mich – ich kann mich gut beschäftigen, trotz der Gefahr. Ich habe keine Angst und werde auch weiterhin aktiv bleiben.“
Zehn Jahre sind vergangen seit der erfolgreichen Verteidigung Kobanês. Halime hat ihr ganzes Leben in der Region verbracht, sie ist Teil dieser Geschichte. Sie und ihr Ehemann nahmen beide am Widerstand teil, ihre Kinder schickten sie damals an einen sicheren Ort.
„In Kobanê wurde nicht nur Daesh besiegt, in Kobanê haben die Frauen sich gegen das Patriarchat aufgelehnt und eine Revolution gestartet“, erzählt Halime. Immer wieder erfahren wir in diesen Tagen rund um den 1. November in verschiedenen Gesprächen, welche Strahlkraft Kobanê hatte und hat, dass sich die Situation der Frauen in der traditionell konservativen Kleinstadt in kurzer Zeit radikal verändert hat. „Schaut euch die Strukturen der Selbstverwaltung an, die meisten Positionen sind mit Frauen besetzt. Sie gehen raus, arbeiten, bauen etwas auf, sind überall sichtbar“, sagt sie.
Als Daesh [„Islamischer Staat – IS“] 2014 angriff, war ihre jüngste Tochter klein, sie stillte sie noch. In der entscheidenden Phase um Kobanê war Halime eine Zeit lang als Mitglied der inneren Sicherheitskräfte aktiv. Vor Ende der Kampfhandlungen verließ sie wie viele andere die Stadt. Sie ging in die Türkei, beteiligte sich dort an den Arbeiten der HDP. Bereits zu Regime-Zeiten wurde sie für ihre politischen Aktivitäten in Syrien verhaftet, jetzt 2014 kam ihr auch dort in Nordkurdistan der Geheimdienst auf die Spur.
Sie wurde angeklagt, ihr drohten 24 Jahre Haft und sie kehrte zurück in den Norden Syriens, nach Kobanê, in die befreite Stadt.
„Es ist wichtig, die Geschichte von Kobanê richtig zu erzählen“, sagt sie. „Die Kräfte der US-geführten Global Coalition haben erst eingegriffen, als Daesh längst in der Stadt war. Erst als sie sahen, dass wir eine Chance haben, schickten sie Unterstützung“, sagt Halime. Sie ist eine der unzähligen Frauen, die in der gesamten Region Nord- und Ostsyrien den Angriffen des türkischen Regimes und seiner Milizen ausgesetzt sind. Immer wieder berichten wir als Women Defend Rojava darüber. Über Emine, Zehra und Hebun. Über Hevrin Khalef. Jiyan Tolhildan, Xalide Mihemed Serif. Sie alle wurden heimtückisch und brutal ermordet, sie alle waren Vorreiterinnen.
„Immer wieder attackieren sie Frauen. Ich bin eine Frau, die für Frauenrechte arbeitet und sie haben mir meine Hand und mein Bein genommen. Als ich im Krankenhaus war, wollte man mir einen Psychologen an die Seite stellen. Ich habe gesagt, dass er gerne kommen kann, wenn er Unterstützung braucht, ich brauche sie nicht. Meine Überzeugung, mein Wille sind nicht gebrochen.“