Bei dem europäischen FLINT*-Treffen „Viele Kämpfe, um zu leben – das gleiche Herz, um zu kämpfen“ in der Verteidigungszone „La ZAD“ im westfranzösischen Nantes ist ein Seminar zur Jineolojî, der im Kontext der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung entwickelten Frauenwissenschaft, und dem Demokratischen Weltfrauenkonföderalismus gehalten worden. Die Referentinnen Sarah Marcha vom Jineolojî-Komitee Europa sowie Jinda von der Kurdischen Frauenbewegung in Europa (TJK-E), vermittelten bei ihrem Vortrag grundlegendes Wissen zur Geschichte, politischen Philosopie sowie Wissenschaft und Organisierungsform der kurdischen Frauenbewegung und beantwortete zahlreiche Fragen.
Einleitend wurde erklärt, dass die kurdische Frauenbewegung vielen Menschen seit der Verteidigung von Rojava gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) bekannt sei. „Spannend ist allerdings, dass der Freiheitskampf der kurdischen Frauen bereits seit über 40 Jahren existiert. Eine Frau, die von Beginn an dabei war, war Sakine Cansız. Sie wurde am 9. Januar 2013 zusammen mit ihren Weggefährtinnen Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris, also hier in Frankreich, ermordet”, hieß es.
Eine Gesellschaft ist nur frei, wenn Frauen und weitere Identitäten frei sind
Cansız zählte zu den Mitbegründer:innen der PKK, die heute zugleich eine Partei der Frauen sei. Aus der autonomen Organisierung der Frauen innerhalb der Guerilla und der Gesellschaft sei seit den 1990er Jahren die Erkenntnis gewonnen worden, dass eine autonome Organisierung alleine nicht ausreiche, sondern eine gemeinsame Grundlage nötig wurde. Diskutiert worden sei die Notwendigkeit der eigenen und kollektiven Entwicklung hin zur freien Frau, sowie eine Ideologie der Freiheit gegen den gesellschaftlichen Sexismus und Methoden, sich gegen die herrschende, patriarchale und dominante Männlichkeit zu verteidigen. „In der freien Gesellschaft gibt es eine Vielfalt an Farben und im Demokratischen Konföderalismus ist Platz für alle Farben dieser Vielfalt.” Die Frage der Geschlechtervielfalt wurde so beantwortet, dass ideologisch, im Sinne einer Einheit von Theorie und Praxis, die freie Frau, der freie Mann und der freie Mensch entwickelt werden. Gemäß der Frauenfreiheitsideologie sei die Gesellschaft nur frei, wenn die Frauen und weitere Identitäten frei sind. Um diese Freiheit zu gewährleisten, sollten sich diese Gruppen stets autonom organisieren können.
Frauenfrage für PKK nicht individuelle sondern gesellschaftliche Frage
Schon in ihrem ersten Programm forderte die PKK volle Gleichheit von Männern und Frauen in allen sozialen und politischen Aspekten. Die kurdische Befreiungsbewegung bewertet die Frauenfrage nicht als individuelle Frage der Frauen, sondern als gesellschaftliche Frage mit historischen Ursachen. Die Lösung dieser Frage wird anderen Schritten der Entwicklung des Kampfes um Freiheit nicht untergeordnet, sie steht im Zentrum aller Anstrengungen. Denn die Analyse der PKK lautet, dass Kapitalismus ohne die Ausbeutung der Frau nicht möglich ist. Erst mit der Befreiung der Frau als die unterdrückteste Nation und das versklavteste Wesen werden entscheidende Schritte im Kampf gegen den Kapitalismus gegangen werden können, so die Maxime. Aus diesem Grund haben Frauen in der Revolution Kurdistans von Beginn an eine Avantgarderolle eingenommen, vor allem innerhalb der Bewegung, und sind so zu einer ideologischen Kraft geworden.
Öcalan: Die dominante Männlichkeit ablegen
Der PKK-Vordenker Abdullah Öcalan betrachtet den Geschlechterwiderspruch mit seiner 5000-jährigen Geschichte als den grundlegenden Widerspruch des 21. Jahrhunderts und hält nach eigenen Worten „die Befreiung der Frau für bedeutender als die Befreiung der Klasse oder der Nation“. Er plädiert dafür, den „Mann zu töten”, also die dominante Männlichkeit abzulegen und dafür aktiv an der Persönlichkeitsentwicklung zu arbeiten. Als eine Methode wird das Prinzip von Kritik-Selbstkritik genutzt, denn auch Revolutionär:innen seien nicht automatisch frei vom System.
1999 wurde Abdullah Öcalan im Zuge eines internationalen Komplotts völkerrechtswidrig in die Türkei verschleppt. Seitdem befindet er sich in politischer Geiselhaft in einem Inselgefängnis im Marmarameer. Seine in Isolationshaft verfassten Gefängnisschriften, in denen er den Paradigmenwechsel der PKK von einer nationalen Befreiungspartei hin zu einer radikaldemokratischen, multiethnischen und politisch offenen Basisbewegung für den gesamten Mittleren Osten anstieß und die politische Philosophie des Demokratischen Konföderalismus begründete, haben seit 1999 weltweit große Beachtung gefunden. Die drei Säulen des neuen Paradigmas sind die Basisdemokratie, die Geschlechterbefreiung und die Ökologie.
„Die Organisierung der Gesellschaft wird gemäß des Demokratischen Konföderalismus umgesetzt. Bis heute haben die Frauen dazu mit unterschiedlichen Organisationsformen und Namen gearbeitet und durch Analyse ihrer Erfahrungen ihre Konzepte weiterentwickelt. Wichtig ist hierbei, dass das kurdische Wort Jin nicht einfach in Frau zu übersetzen ist. Die Herkunft des Wortes gleicht dem des Wortes für Leben (jiyan), weshalb das Verständnis des Begriffs vielmehr weiter gefasst verstanden werden kann.
Wie organisieren wir uns?
Die Frage war stets ‚Wie organisieren wir uns?’. Aktuell arbeitete die Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (KJK) als Dachverband der kurdischen Frauenbewegung ebenfalls mit einer basisdemokratisch konföderalen Struktur. Die Frauenpartei spielt eine ideologische Rolle, die Selbstverteidigungskräfte garantieren eigene Fraueneinheiten, und in der Gesellschaft organisieren sich beispielsweise auch die jungen Frauen autonom. In Rojava ist real umgesetzt, dass Frauen aktiver Teil der Selbstverwaltung sind. Sie arbeiten in autonomer Frauenorganisierung, etwa als Ko-Vorsitzende in Räten, sie sind vielfältig präsent. Weil sie viele sind, die gemeinsam organisiert sind, können sie Aufgaben in der autonomen Organisierung und in der allgemeinen Organisierung („allgender“, also in Strukturen mit Männern) untereinander aufteilen. Manche bringen sich auch in beiden Strukturen ein, in enger Verbindung mit ihren autonomen Frauenstrukturen. Es gibt auch autonome Gesundheits- und Bildungsinstitutionen, Konfliktbearbeitung und eine eigene Justiz. In Rojava wurden dabei Grenzen überwunden: alle Teile der Bevölkerung lernten einander kennen und organisieren sich nun gemeinschaftlich innerhalb des Demokratischen Konföderalismus.”
Weiter wurde benannt: „Kurdistan und damit die kurdische Bevölkerung wurden in den 1970er Jahren von der damals jungen PKK-Bewegung als Kolonie definiert. Gemäß des Lausanner Vertrags sind 1923 die nationalstaatlichen Grenzen der Region durch vier externe Staaten (fremd-)bestimmt worden. Mit einem Federstrich wurden die Kurdinnen und Kurden Bürger:innen der Türkei, des Irans, des Iraks und Syriens. Regelmäßig wird behauptet, diese Situation sei alternativlos, doch Kolonisierung ist schon immer mit Widerstand beantwortet worden. In Kurdistan ist der bewaffnete Kampf eng verknüpft mit Verteidigung des demokratischen konföderalen Systems.
Der widerständige, demokratische Fluss der Geschichte ist neben dem Fluss des kapitalistischen Patriarchats und all seiner Zerstörung und Hässlichkeit immer sichtbar. Diese Momente lassen sich in der Geschichte verfolgen. Hier setzt die Jineolojî an und untersucht beispielsweise Gesellschaften und Gesellschaftsformen, die vor dem Patriarchat existierten oder noch heute als Matriarchate oder matrizentristisch organisiert sind. In Kurdistan selbst sind Orte zu finden, in die Geld und kapitalistische Verwertungslogik noch keinen Einzug gefunden haben und das Zusammenleben kommunaler, gemeinschaftlicher organisiert ist. Die Natur etwa hatte vor Durchsetzung des Patriarchats einen anderen Stellenwert, der Mensch definierte sich als Teil dessen. In der kurdischen Bewegung gibt es ein umfassendes Verständnis von Ökologie. Der Spruch ‚Jeder Baum wächst auf seiner eigenen Erde’ und das Wertschätzen der eigenen Wurzeln in der gemeinschaftlichen Geografie zeigt sich in großer Verbundenheit mit dem Land. Ökologische kollektive Frauenkooperativen sind dabei wegweisend.”
Alternativen zum Staat aufbauen und sich zu transformieren
Der global vorherrschende Wissenschaftsbetrieb führe derweil kolonialistische, sexistische und staatliche Angriffe weiter. Diese Wissenschaften seien patriarchal geprägt; durch den dominanten Mann. Die Jineolojî als Wissenschaft der Frau und des freien Lebens setze dem eigene Perspektiven entgegen, denn es gehe darum, Alternativen zum Staat aufzubauen und sich selbst zu transformieren. Die kurdische Frauenbefreiungssbewegung spreche hier vom Prinzip der unendlichen Scheidung. Um die Autonomie der Frauen umfassend aufzubauen, werde neben den Bereichen Politik und Gesellschaft auch in den Bereichen der Ökonomie gearbeitet, beispielsweise durch den Aufbau von Frauenkooperativen. In Rojava existiert auch ein Dorf der Frauen, wo alle Bereiche eigenständig selbstverwaltet erarbeitet werden.
Dominante patriarchale Männlichkeit ist gut organisiert
Mit dem Gedanken, Grenzen zu überwinden und global alle feministischen und freiheitlichen Frauenbewegungen zu vereinen, werde vom Weltfrauenkonföderalismus gesprochen. Das Projekt des Demokratischen Konföderalismus sei dabei explizit nicht auf das Konzept eines Nationalstaates angewiesen, vielmehr seien Dachverband-Organisationen zur Organisierung und Koordinierung die passende Form. Auf einer ersten Konferenz unter dem Titel „Women Weaving Future“ vor drei Jahren in Frankfurt am Main wurden die ersten Schritte unternommen, ein Netz zu kreieren. Jetzt werde eine zweite Konferenz folgen, dieses demokratisch-konföderale Projekt voranzubringen. „Wir wissen, dass die Feinde der Freiheit und die dominante patriarchale Männlichkeit gut organisiert sind. Für den Aufbau einer anderes gestalteten, freiheitlichen Welt sollten wir uns gut organisieren. Dazu sind wir hier”, beendeten die Referentinnen ihren Vortrag. Sie bedankten sich bei allen Frauen, „die das freie Leben verteidigen und ihr Leben dafür geben”. „Sie grüßen und ihnen gedenken wir.”