Hamburg: Den Krieg sichtbar machen

Das Hamburger Komitee von „Women Defend Rojava“ hat in Eimsbüttel mit einer Performance auf den türkischen Angriffskrieg und seine gezielten Attacken gegen die Frauenrevolution in Nordostsyrien aufmerksam gemacht.

Das Hamburger Komitee von „Women Defend Rojava“ hat am heutigen Mittwoch, dem wöchentlichen Aktionstag der Kampagne, erneut mit einer Performance auf den türkischen Angriffskrieg und seine gezielten Attacken gegen die Frauenrevolution in Nordostsyrien aufmerksam gemacht.

In einem Wohnviertel der Stadt kamen zahlreiche Aktivistinnen des Komitees zusammen und verlasen stellvertretend für viele weitere Schicksale die Biografien von Frauen und Kinder, die dem verbrecherischen Treiben der Türkei und ihrer Verbündeten zum Opfer fielen. „Wir wollen mit diesen Aktionen an möglichst verschiedenen Orten der Stadt auf die Situation in Nordostsyrien aufmerksam machen und den vielen mutigen Frauen, die von patriarchaler Aggression getötet wurden, ein Gesicht geben und ihren Kampf weitertragen“, so eine Aktivistin. „Unsere Kleidung ist nur von Kunstblut getränkt, in Nordostsyrien ist der Tod seit dem 9. Oktober wieder allgegenwärtig. Wir sagen: Türkei, aber genauso NATO, UN, EU, allen voran die BRD: Blut an euren Händen!“

Kraftvoll schallte durch die belebten Einkaufsstraßen im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel: „Gegen den türkischen Faschismus, gegen das Schweigen und – noch schlimmer – die Unterstützung dieses Faschismus durch die Weltöffentlichkeit: Es lebe der Widerstand Rojavas! Es lebe die Frauenrevolution! Jin Jiyan Azadî!“

Bei der Aktion wurden Flyer und der offene Brief der Frauenbewegung an die UN zur zusätzlichen Informierung verteilt. Die interessierten Passant*innen wurden aufgerufen, sich klar gegen den Krieg zu positionieren, aktiv zu werden – etwa beim Hamburger „Women Defend Rojava“-Komitee, das weiterhin jeden Mittwoch auf den Straßen sein und in vielfältigen Aktionen den Widerstand der Frauenrevolution unterstützen wird.

Bei der Performance wurden folgende Texte verlesen:

Mein Name ist Muhammad Hamid

Ich bin dreizehn Jahre alt und komme aus der Stadt Kobanê. Kobanê wurde 2014 fast vom islamischen Staat eingenommen, aber dann kam die internationale Koalition und hat uns unterstützt. So konnte es 2015 befreit werden.

Während des Angriffs, der vor zehn Tagen begann, war ich in Serêkaniye. Acht Tage lang haben unsere Kämpferinnen und Kämpfer die Stadt gegen die islamistischen Banden gehalten, die auf Seiten der türkischen Armee kämpfen. Trotz Bombardements der türkischen Luftwaffe, trotz der Panzer aus Deutschland. Sie haben es nicht geschafft, in unsere Stadt zu kommen. Aber dann am neunten Tag hat die türkische Armee unsere Stadt mit weißen Phosphorbomben angegriffen. Unser ganzes Haus hat gebrannt, mein ganzer Körper ist verbrannt, es sind so große Schmerzen. Ich habe so große Angst dass diese Schmerzen nicht aufhören. Diese Bomben sind doch Chemiewaffen, international geächtet, warum schweigt die Welt zu diesem Verbrechen?

Ich bin Sarah, ich bin acht Jahre alt

Unser Haus am Rande von Qamişlo wurde von der türkischen Armee beschossen. Qamişlo ist die größte Stadt in Rojava im Norden von Syrien. Hier wohnen eine halbe Million Menschen. Eine Bombe der türkischen Armee fiel etwa acht Meter vor mir und meinen drei Geschwistern. Eines meiner Beine wurde abgerissen, auch das andere ist verletzt. Mein Bruder Mohammed ist tot. Die Granatsplitter der Bombe trafen sein Herz, seine Kehle und sein Gesicht. Er starb fast sofort. Seitdem ich vor fünf Tagen getroffen wurde, kann ich nicht mehr sprechen. Das alles ist am Donnerstag passiert. Meine Familie hatte gerade beschlossen, die Stadt zu verlassen. Meine Mama Nariman weint die ganze Zeit, sie gibt sich selbst die Schuld für den Tod von Mohammed und meine Verletzung. „Wir hätten fliehen sollen, als Erdoğans Armee gekommen ist“, sagt sie. 

Bevor der Krieg begonnen hat, war ich die Beste in der Klasse. Ich habe gerne Fußball gespielt. Warum bombardiert uns die Türkei? Wir haben nichts getan, wir wollen nur in Frieden hier in Rojava leben. Jetzt kann ich nie mehr Fußball spielen und mein Bruder ist tot.

Ich bin Fatma, ich bin Vorsitzende im Frauenrat von Dêrik

In Dêrik gab es keinen Krieg bisher, aber wir haben 2013 alle Menschen aus Til Koçer aufgenommen, die arabischen Şammar, als der Islamische Staat und die al-Nusra-Front ihre Stadt eingenommen haben. 2014 haben wir 200.000 Eziden aufgenommen, weil Şengal vom Islamischen Staat angegriffen wurde. Mehr als 3000 Menschen wurden ermordet, tausende Frauen verschleppt und wie Sklaven verkauft.

Da hat sich meine Tochter Sozdar den YPJ, den Frauenbefreiungskräften angeschlossen. Sie hat an vielen Orten gegen den IS gekämpft und war Kommandantin einer gemischten Einheit. Aber im letzten Jahr ist sie in Raqqa gefallen, im Kampf gegen den Islamischen Staat. Die internationale Koalition hat uns mit Luftschlägen unterstützt. Aber am Boden haben nur die YPJ und die YPG gekämpft. 11.000 unserer jungen Menschen haben ihr Leben im Kampf gegen den IS verloren, eine davon ist meine Sozdar, ich weine jede Nacht um sie. Ich habe mich getröstet, habe gedacht, sie hat ihr Leben gegeben, aber dafür leben wir jetzt in einem freien Land.

Aber die Internationale Koalition hat uns schmählich im Stich gelassen. Die IS-Dschihadisten sind nun wieder im Land, in türkischen Uniformen. Wieder plündern sie, ermorden Menschen, verschleppen Frauen. Europa lässt uns im Stich, die USA lassen uns im Stich. Wir haben doch für euch alle gekämpft gegen den IS. Schon haben sie Serêkaniyê und Girê Spî überrollt. Warum habt ihr uns verraten?

Ich bin Amara Rênas

Mein Geburtsname ist Azize Celal, ich bin Mitglied der Frauenverteidigungskräfte, der YPJ. Am Abend des 21. Oktober war ich mit meinen Genossinnen im Dorf Çelbê bei Kobanê, um es gegen den türkischen Staat und seine Banden zu verteidigen. Eigentlich galt ja ein Waffenstillstand, aber daran haben sich diese Verbrecher nicht gehalten. Sie griffen uns trotz des Waffenstillstandsabkommens mit schweren Waffen an. Wir haben erbitterten Widerstand geleistet. Aber wir wurden umzingelt und ich fiel in ihre Hände. Was sie mit meinem Körper taten, will ich hier nicht beschreiben. Unter „Allah u Akbar“-Rufen haben die Faylaq al-Majid, Söldner der türkischen Armee, uns trotz des Waffenstillstandsabkommens mit schweren Waffen angegriffen. Wir haben erbitterten Widerstand geleistet. Aber wir wurden umzingelt und ich fiel in ihre Hände. Mein Körper wurde zur Schau gestellt und misshandelt. Etliche Male haben sie Allah u Akbar gerufen, „Gott ist groß“. Einen solchen Gott, der diese Verbrechen gutheißt, gibt es nicht. Diese Bandenmitglieder wollen mit ihrer unglaublichen Brutalität die Hölle auf Erden errichten. Sie haben mich und Kämpferinnen als Schweine und Huren beschimpft. Sie haben das schon so oft getan. Mit Barin Kobanê, mit Ekin Wan, mit Andrea Wolf und vielen anderen. Sie kennen in ihrer Brutalität keine Grenzen und nichts ist ihnen heilig, nicht einmal der Körper einer Frau.

Mein Name ist Havrin Khalaf

Ich wurde 1984 in Dêrik geboren. Meine Familie war gesellschaftlich und politisch engagiert. Vier meiner Brüder und meine Schwester Zozan haben sich dem Befreiungskampf angeschlossen und haben ihr Leben verloren für unsere Freiheit.  Das war sehr schwer für mich. Meine Mutter Sûad war seit 30 Jahren in der kurdischen Frauenbewegung. Was sie dort lernte, hatte auch einen großen Einfluss auf meine Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung. Nach der Schule habe ich Agrarwissenschaften studiert. Als wir 2012 das Assad-Regime aus Dêrik vertreiben konnten, übernahm ich leitende Funktionen im Wirtschaftsrat von Qamişlo. Ich wurde Ko-Vorsitzende im Energiekomitee. Vor allem war es mit wichtig, dass Frauen ökonomisch unabhängig wurden.

Als 2017 und 2018 Raqqa, Tabqa und Deir ez Zor befreit wurden, haben wir die Zukunftspartei Syriens gegründet, um uns für die Belange aller Bevölkerungsgruppen in Syrien einzusetzen. Meine Hoffnung war, dass wir die Probleme Syriens über Dialoge lösen können. Auch während des Angriffskrieges der Türkei habe ich weiter versucht, politische Lösungen zu finden.

Aber auf dem Weg in meinem Auto wurden wir von den von der Türkei unterstützten Dschihadisten angehalten. Sie haben mich und meine Begleiter brutal gefoltert und dann ermordet. Das war ein gezielter Anschlag. Sie haben sich sogar unter „Allah u Akbar“-Rufen gefilmt und den feigen Mord an mir ins Internet gestellt.

Meine Ermordung wurde in den türkischen Medien als eine erfolgreiche Neutralisierung einer Terroristin gefeiert. Ich habe jedoch nie eine Waffe getragen und wollte immer einen politischen Weg. Ich bin so schockiert, dass selbst meine öffentliche Ermordung nicht zu einem Aufschrei in Europa geführt hat. Europa redet von Besorgnis, aber sie tun nichts!

Ich bin Şevinaz

Ich habe in Serêkaniyê eine Filmschule aufgebaut, nachdem wir die Stadt 2014 von al-Qaida, der Al-Nusra-Front, befreit hatten. Die Türkei hatte die al-Qaida 2013 mit Waffen und Munition versorgt, sie agierten unter dem Namen FSA. Es gab viele Anschläge, viele Menschen sind hier gestorben. Nonnen wurden vergewaltigt und verschleppt, Menschen auf offener Straße hingerichtet. Der Islamische Staat hat sich hier breitgemacht. Aber unsere Kämpferinnen haben die Stadt 2014 befreit.

In unserer Stadt gibt es Araber*innen, Kurd*innen, Christ*innen, Ezid*innen. Alle gemeinsam haben wir einen Frauenrat und einen Volksrat aufgebaut, in dem alle Bevölkerungsgruppen vertreten sind. Wir haben unsere Stadt mühsam wieder aufgebaut. Es gab viele Fraueneinrichtungen, eine Frauenbäckerei, wir haben ein schönes Leben entwickelt.

Vor zehn Tagen hat die türkische Armee begonnen, mit Kampfjets unsere schöne Stadt zu bombardieren. Sie haben Phosphorbomben eingesetzt, Dschihadisten plündern Geschäfte. Ein Konvoi von internationalen Journalisten und Ärzten hat versucht in die Stadt zu kommen, um uns zu helfen. Auch dieser Konvoi wurde bombardiert. Zwölf Menschen sind gestorben, darunter drei meiner Freunde. Seither haben die meisten ausländischen Journalisten Rojava verlassen, weil es für sie zu gefährlich sei. Was ist mit uns, auch wir sind geflohen, wir mussten die Stadt verlassen. Die Stadt ist jetzt leer, dort wüten und plündern die Dschihadisten der Ahrar al-Sham. 300.000 Menschen, die noch nicht einmal vor dem IS geflohen sind, sind jetzt geflohen. Erdoğan will uns alle vernichten. Er vertreibt und ermordet unsere Menschen. Und Europa schaut einfach zu. Sie liefern sogar die Waffen und gegen Erdoğan das Geld, um diesen Krieg zu führen. Warum?

Ich heiße Dilovan Gever und komme aus Nordkurdistan

Ich komme aus Gever, aber die Türkei nennt diese Stadt Yüksekova. Sie vernichtet alles, was kurdisch klingt. Ich bin 2014 nach Rojava gekommen, als der als der IS 2014 Kobanê angegriffen hat. Bis zur Befreiung von Kobanê war ich in der Stadt. Lange habe ich an einem furchtbaren Ort gearbeitet, der Leichenhalle in Kobanê. Ich habe tausende zerfetzte junge Menschen gesehen, die für die Freiheit sterben mussten. Meine Wut und mein Hass auf den IS und die türkischen Besatzer wurden mit jeder Grausamkeit größer, insbesondere nach der Besetzung von Efrîn.

Seit drei Jahren habe ich jedoch Pressearbeit gemacht. Ich habe aus Deir ez-Zor berichtet, wo die Selbstverteidigungskräfte von Rojava gegen den IS, den sogenannten Islamischen Staat, kämpften. Ich war bei vielen Gefechten ganz vorn an den Seiten der Freundinnen, manchmal mit der Waffe in der Hand, manchmal mit der Kamera. Fünf intensive Jahre habe ich voller Überzeugung und Entschlossenheit in dieser Revolution der Menschlichkeit verbracht. Ich habe immer an den Kampf der Menschen in Nord- und Ostsyrien geglaubt und dafür gelebt, ein Teil davon zu sein.

Am 13. Oktober wurde mein Körper durch einen türkischen Luftangriff auf Girê Spî zerfetzt. Dort war ich seit dem ersten Tag des Angriffs durch die türkische Armee für die Presse der Frauenverteidigungseinheiten. Girê Spî, das ist die Stadt, die wir 2015 unter so großen Opfern vom Islamischen Staat befreit haben. Girê Spî war die Stadt, durch die die Türkei während des Krieges die IS Kämpfer einschleuste, über die sie Waffen an den IS lieferte. Und nun ist sie wieder in der Hand des  IS, denn die türkische Regierung und der IS sind eins.

Ich bin Zin Kobanê

Diesen Namen haben mir meine Mitkämpfer*innen gegeben. Zuhause hieß ich Suad Cimo. Am 13. Oktober habe ich mein Leben in einem Gefecht mit den Dschihadisten, die Erdoğan schickt und finanziert, verloren, in dem kleinen Ort Siluk bei Girê Spî.

Ich war eine der allerersten Frauen, die sich in Kobanê dem Befreiungskampf angeschlossen hat, 2011. Das war nicht einfach, ich komme aus einer sehr feudalen Gesellschaft. Dass Frauen das Haus verlassen und sich für ihre Freiheit einsetzten, war etwas Unerhörtes. Aber ich habe einen so starken Wunsch nach Freiheit verspürt, dass mich niemand aufhalten konnte, auch wenn meine Mutter weinte. Ab 2013 habe ich als Kämpferin gegen den IS und andere islamistische Gruppen teilgenommen. Ich habe im Lauf der Jahre Hunderte Kämpferinnen ausgebildet. Ich war dabei, als wir im Dezember letzten Jahres den IS in al-Baghouz besiegt haben.

Ich war eine der führenden Kommandantinnen in 2013 in Serêkaniyê, das jetzt wieder von diesen Islamisten eingenommen wurde. Ich habe an so vielen Fronten gekämpft, auch 2014 und 2015 in Kobanê, meiner Heimatstadt. Das war der schwerste Kampf. Im Kampf um Kobanê wurde ich am Arm verletzt. Am Schluss waren wir von allen Seiten eingekreist und waren nur noch wenige überlebende Kämpferinnen, aber dann kam uns auf den Druck der weltweiten Öffentlichkeit die Internationale Koalition zur Hilfe. Kobanê konnte befreit werden.

Jetzt kommt uns niemand zur Hilfe, denn der Aggressor, auch wenn er sich nicht vom IS unterscheidet, ist ein NATO-Staat, ein strategischer Verbündeter und Handelspartner der Bundesrepublik. Deutschland nennt sich eine Demokratie, aber es schützt aus eigennützigen Interessen einen Faschisten, Kriegsverbrecher und Massenmörder.