Im Kölibri im Hamburger Stadtteil Sankt Pauli fand am Montagabend wieder ein offenes „Gemeinsam Kämpfen“-Café statt. Nach einem gemeinsamen Abendessen an langer Tafel, stellte Lena vom Jineolojî-Komitee Deutschland die Idee des Demokratischen Weltfrauenkonföderalismus vor. Mit knapp 20 Teilnehmenden wurde im Anschluss rege diskutiert.
Zu Beginn des Cafés wird immer gemeinsam zu Abend gegessen, um sich besser kennenzulernen und in offener Atmosphäre miteinander ins Gespräch zu kommen. Das Café findet bereits seit mehreren Jahren monatlich statt und hat sich in Hamburg etabliert.
Das Thema des Abends war diesmal der Demokratische Weltfrauenkonföderalismus. Anfangs stellten sich alle Teilnehmenden kurz vor und es zeigte sich die Vielfalt unterschiedlichen Alters und ethnischer Hintergründe. Gleich zu Anfang stellte Lena fest: „Der Demokratische Weltfrauenkonföderalismus ist immer ein Prozess. Es ist kein Rezept, keine Abfolge von Schritten, die überall gleich sind, um sich zu organisieren. Daher ist es wichtig, dass wir alle unsere Unterschiedlichkeiten mit einbringen und daraus diesen gemeinsamen Prozess entstehen lassen.“
Im System der Nationalstaaten liegt keine Lösung
Die weltweite politische, ökologische und soziale Krise erfordere eine umfassende Antwort und diese könne der Demokratische Weltfrauenkonföderalismus sein. Neben den neuen Formen von Kolonialismus und Imperialismus sowie den geostrategischen Kämpfen um die globale Hegemonie, gebe es überall auf der Welt sehr starken und vielfältigen Widerstand dagegen. Die Zunahme von Feminiziden sowie allgemein der gesellschaftliche Sexismus seien ein Beispiel für die enorme Vertiefung der aktuellen Probleme, die parallel zu der zunehmenden Zahl von Nationalstaatsgründungen in den letzten Jahrzehnten stattfand. Dies zeige offen, dass in diesem System keine Lösung liege und dementsprechend wehrten sich die Gesellschaft und insbesondere feministische- und Frauenbewegungen sowie auch allgemein soziale Bewegungen dagegen. Die Antwort auf diese Kämpfe sei immer Repression oder mittels Reformen und Ähnlichem die Systemintegration. Das Besondere in dieser Zeit sei, dass viele Menschen weltweit die gleichen Probleme sehen und analysieren, auch wenn sie hierfür unterschiedliche Weisen des Ausdrucks finden. Die Diskussion, die die kurdische Freiheitsbewegung in den letzten Jahren stark vorangetrieben habe, ist der Vorschlag des Demokratischen Konföderalismus und speziell des Demokratischen Weltfrauenkonföderalismus. Hierin werde vor allem versucht, die verschiedenen Analysen zusammenzubringen und zu untersuchen, wo Unterschiede und Gemeinsamkeiten liegen. Denn die regionalen Kämpfe, die regionale Situation seien das grundlegend Entscheidende und müssten dabei doch immer in den globalen Zusammenhang gesetzt werden.
Kurdistan ist eine Kolonie
Die Entwicklung des Demokratischen Konföderalismus hänge eng mit der Entwicklung der kurdischen Freiheitsbewegung in Nordkurdistan (südöstliches türkisches Staatsgebiet) selbst zusammen. Diese begann vor allem mit der Feststellung, dass Kurdistan eine Kolonie sei und dementsprechend sei ein freies, selbstbestimmtes Kurdistan zum Ziel gesetzt geworden. Die Situation der Frauen sei hierin von Beginn an ein wichtiger Aspekt gewesen, denn sie hätten in der kurdischen Geschichte eine große Bedeutung und eine starke Widerstandstradition. Teil einer revolutionären Bewegung zu sein, bedeute nicht, alle verinnerlichten Herrschaftsmechanismen bereits überwunden zu haben und so habe auch innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung der Geschlechterkampf stattgefunden, den die kurdischen Frauen mit ihrer selbstständigen, autonomen Organisierung in allen Bereichen beantwortet hätten. Zur Grundlage hätten sie sich einen liebevollen und respektvollen Umgang miteinander genommen, sodass patriarchale Mechanismen zwischen ihnen weniger wirken konnten. Parallel dazu seien die Männer aufgefordert worden, sich mit ihrer dominanten Männlichkeit auseinanderzusetzen und diese zu überwinden.
Nachdem sich zunächst marxistisch-leninistisch orientiert wurde, hätten vor allem in den 90ern Reflexionen stattgefunden, die Anfang der 2000er Jahre dazu geführt hätten, dass Abdullah Öcalan das Lösungsmodell des Demokratischen Konföderalismus vorschlug und sich von dem Ziel eines kurdischen Staates abgewendet worden sei. Der Staat selbst sei als Macht- und Herrschaftskonstrukt benannt worden, der keinerlei Lösungsperspektive für eine befreite Gesellschaft darstelle. Es brauche eine andere Form gesellschaftlicher Organisierung, die auf der Selbstorganisierung aller Identitäten beruhe. So seien die drei Säulen der Basisdemokratie, der Frauenbefreiung und der Ökologie ins Zentrum gesetzt worden.
In den Folgejahren seien in den verschiedenen Teilen Kurdistans konföderale Strukturen aufgebaut worden, die immer auf der autonomen Organisierung der Frauen fußten und prinzipiell dem Ko-Vorsitz-System entsprächen (ein Mann und eine Frau teilen sich eine Verantwortung). Hierbei werde die Überzeugung vorausgesetzt, dass nicht auf die perfekte Utopie in der Zukunft gewartet werden müsse, sondern alle im Hier und Jetzt anfangen könnten, ein alternatives System neben dem Staat aufzubauen und so für die befreite Gesellschaft zu kämpfen. So sei mit dem Aufbau von Kommunen, Räten, Kooperativen und Akademien begonnen worden. Dies seien die grundlegenden Formen des alternativen Systems.
Demokratischer Konföderalismus sinnvolle Form von Internationalismus
Die weltweite Dimension sei insbesondere in den letzten Jahren stärker fokussiert worden. Hierbei sei die Frage wichtig, welche neuen Formen eine transnationale Verbindung verschiedener Bewegungen brauche und wie die vielfältigen Erfahrungen fruchtbar zusammengebracht werden könnten. „Das, was die These und der Vorschlag der kurdischen Freiheitsbewegung und Frauenbewegung ist, ist dass der Demokratische Konföderalismus die sinnvolle Form des Internationalismus im 21. Jahrhundert ist“, fasst Lena zusammen. Hierfür seien vor allem internationale (Frauen-)Konferenzen zukunftsweisende Diskussionsplattformen, die in den vergangenen Jahren verstärkt auf mehreren Kontinenten initiiert worden seien sowie die Akademie der Demokratischen Moderne, die weltweit Seminare durchführe und die Diskussionen stetig weiterentwickle. Die leitende Frage hierbei sei: Wie können wir uns lokal, regional und transnational vernetzen und als Bewegungen wirksam zusammenkommen? Es gehe nicht um die Gründung abstrakter Dachverbände, sondern eine konkrete und praktische Zusammenarbeit und gemeinsame Verteidigung. Die Verbindung müsse wirklich real gemacht werden. Diese beträfe alle Bereiche des Lebens, wie beispielsweise alternative Bildung, Gesundheit, Entscheidungsstrukturen in Räten, alternative Medien und viele mehr.
Jineolojî für Fortschritte im Leben und in der Organisierung
Im folgenden Austausch wurde zunächst auf die Perspektive der Jugend eingegangen. Obwohl viele Jugendliche interessiert seien, sei es schwierig sich miteinander zu organisieren. Insgesamt sei beobachtbar, dass Frauen häufig diejenigen seien, die sich noch immer solidarisch verhalten und somit Überreste matriarchaler Strukturen spürbar würden. Solidarisches Verhalten sei keine Frage des Alters, sondern eine der Zwischenmenschlichkeit und konkreter Aktivität, keine abstrakte Sache. Dies auf eine internationale Ebene zu heben, sei eine aktuelle Aufgabe. Auch mit der Jineolojî könnten viele Fortschritte im Leben und in der Organisierung erkannt werden. Wichtig sei dabei, nicht das Trennende immerzu in den Vordergrund zu setzen, und flexibel auf die Menschen zuzugehen. Weltfrauenkonföderalismus bedeute einen Zusammenhang in der Vielfalt und der Unterschiedlichkeit zu schaffen, das sei das Schöne und Hoffnungsgebende. Hierzu könne auch das Aufdecken der wahren Bedeutung von Politik hilfreich sein, denn die Staatsmentalität führe bei vielen Menschen dazu, sich selbst als unpolitisch wahrzunehmen. Dies müsse umgekehrt werden.
Ein Leben, das sich um die Frauen herum organisiert: Matriarchat
Inspirierend war auch die gemeinsame Betrachtung von matriarchalen Gesellschaften, die auf verteilen, statt auf horten beruhten und sich um Frauen zentrierten. Das Besondere sei, dass es in ihnen keine Gewalt gegen Frauen und keine Unterdrückung gebe, denn Matriarchat bedeute nicht „Herrschaft von Frauen“, sondern ein Leben, das sich um die Frauen herum organisiere. Diese Gesellschaftsform sei den überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte weltweit gelebt worden. Auch heute gebe es noch matriarchale Gesellschaften. Den Glauben, das Patriarchat habe schon immer bestanden, zu überwinden, sei wichtiger Teil der mentalen Revolution. Sich ein geschichtliches Bewusstsein von Frauengeschichte – persönlich und gemeinsam – wieder anzueignen, sei auf diesem Weg ein mühevoller, aber entscheidender Schritt. Organisierung könne nicht im Nirgendwo beginnen.
Die Suche und die Initiative für ein befreites Leben gebe es überall. Die Jineolojî, die es mittlerweile in allen Teilen der Welt gibt, sei ein Beispiel dafür. Entscheidend sei, diese gemeinsame Suche in all den verschiedenen Bezeichnungen zu erkennen und als gemeinsam zu verstehen.