Frauenorganisationen rufen zu IS-Prozessbeobachtung auf

Der ezidische Frauendachverband ruft zur Beobachtung der IS-Prozesse in Deutschland auf und fordert eine zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung der menschenverachtenden und frauenfeindlichen „IS“-Strukturen aus Frauenperspektive.

Der Dachverband des Ezidischen Frauenrats e.V., die Deutschland-Vertretung der kurdischen Frauenbewegung in Nord- und Ostsyrien Kongreya Star und das Kurdische Frauenbüro für Frieden - Cenî e.V. rufen Jurist*innen, Journalist*innen, Frauenrechtler*innen und Aktivist*innen zur Beobachtung der die IS-Prozesse in Frankfurt, München und Hamburg auf. Vor dem Hintergrund, dass der genozidale IS-Angriff auf das ezidische Hauptsiedlungsgebiet Şengal im August 2014 in seiner Form zugleich auch einen Feminizid darstellt, fordern die Frauenorganisationen zudem die Gründung von Initiativen, um damit Verantwortung für eine breite zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung der menschenverachtenden und frauenfeindlichen „IS“-Strukturen aus Frauenperspektive zu übernehmen. In einer gemeinsamen Erklärung heißt es:

In Frankfurt begann am 24. April der Strafprozess gegen das „IS“-Mitglied Taha A.-J., der wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Menschenhandel und Mord angeklagt ist. Es handelt sich damit um das erste Verfahren, in dem ein „IS“-Mitglied wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt ist. Am 4. Mai begann in Hamburg die Hauptverhandlung gegen Omaima A., angeklagt wegen Mitgliedschaft und Unterstützung des „IS“, Menschenhandel und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Anfang April 2019 begonnene Verfahren wegen „IS“-Mitgliedschaft und Mord gegen Jennifer W. vor dem OLG München dauert noch bis mindestens September 2020 an. Mit diesen Verfahren werden die Verbrechen des sogenannten IS als Einzelfälle behandelt. Sie werden der Verantwortung und Aufarbeitung, die für ein richtiges Verständnis der Entstehung und der wirksamen Bekämpfung des „IS“ und der dahinterstehenden patriarchalen Mentalität notwendig wären, in keiner Weise gerecht.

Seit dem Angriff der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) gegen die Religionsgemeinschaft der Eziden in Sinjar/Şengal am 3. August 2014 sind fast sechs Jahre vergangen. Innerhalb weniger Wochen wurden in der Region um Sinjar tausende Ezid*innen auf grausame Weise hingerichtet, einzeln oder auch als öffentlicher Massenmord. Über 5000 Menschen, mehrheitlich Frauen und Mädchen, wurden vom IS verschleppt, vergewaltigt, als Sklavinnen benutzt oder wie Ware auf „Sklavinnenmärkten“ verkauft. Um diesem Schicksal zu entgehen und nicht in die Hände des IS zu geraten, wählten hunderte Frauen den Selbstmord. Mehr als 50.000 Ezid*innen flohen aufgrund der Angriffe in die angrenzenden Berge, in denen viele von ihnen aufgrund von Erschöpfung, Wasser- und Nahrungsmangel starben, insbesondere Kinder und Alte. Insgesamt wurden Hunderttausende Menschen zur Flucht gezwungen. Viele Ezid*innen leben bis heute zum Teil in Flüchtlingslagern in der Region, oder haben ohne Hoffnung auf ein Überleben im Mittleren Osten ihre Heimat verlassen und Asyl in Europa gesucht.

Der Angriff des IS auf Sinjar, dem tausendjährigen Siedlungsgebiet der Ezid*innen, war nicht nur eine humanitäre Katastrophe. Es war ein Angriff gegen die Ezid*innen als Religionsgemeinschaft mit dem Ziel, diese auszulöschen. Als Mittel dazu richtete sich der Angriff systematisch und auf besonders brutale Art und Weise gegen Frauen. Denn im Gegensatz zu den Männern tötete der IS die Frauen nicht nur, sondern versuchte ihnen mit allen Mitteln ihre Identität und ihren Willen als Frauen zu nehmen. Dieser genozidale und feminizidiale Angriff wird von den Ezid*innen als 74. Völkermord bezeichnet. Er ist in seiner Form zugleich auch ein Feminizid. Wir glauben daran, dass die Bedingungen, die zum 3. August 2014 geführt haben, der Völkermord selbst und die anschließende Situation in Sinjar noch immer nicht ausreichend beleuchtet worden sind. Aufgrund der Verknüpfung von Genozid und Feminizid im Fall von Sinjar halten wir es für notwendig, diesen 74. Völkermord gegen die Eziden im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts aus der Perspektive von Frauen zu untersuchen. Die besondere Betrachtung des Feminizids sehen wir dabei als unumgänglich.

Als Dachverband des Ezidischen Frauenrates sind wir seit dem Angiff auf Sinjar um eine Aufarbeitung und auch eine Verfolgung der brutalen Straftaten des IS bemüht. Im März 2017 haben wir dazu in Bielefeld die erste internationale ezidische Frauenkonferenz unter dem Titel „Genozidale Angriffe auf ezidische Frauen und Wege des Widerstands gegen Völkermord“ organisiert. Die Konferenz schaffte eine Plattform für Frauen aus der kurdischen und ezidischen Gemeinschaft ihre Perspektive auf die Angriffe auf Sinjar, die Situation, Bedürfnisse und Entwicklungsmöglichkeiten vor Ort darzustellen und eine selbstbestimmte Analyse und Entwicklung von Unterstützungsmöglichkeiten für den Widerstand gegen diesen Genozid und Feminizid voranzubringen.

Die Angriffe des „IS“ beschränkten sich nicht auf Sinjar. Besonders die hauptsächlich kurdisch besiedelten Gebiete in Nordostsyrien, in denen die Bevölkerung im Zuge des Machtvakuums eine Selbstverwaltung mit dem Ziel einer demokratischen, frauenbefreienden und ökologischen Gesellschaft aufgebaut hatte, wurden Ziel der Mörderbanden des „IS“.

Deshalb bemühen sich auch andere Kräfte wie etwa die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien um eine Aufarbeitung und um Gerechtigkeit. So fand im Juli 2019 im nordsyrischen Qamişlo eine vom Zentrum für strategische Studien Rojava (NRLS) organisierte Konferenz mit dem Titel „IS: Dimensionen, Herausforderungen und Strategien für Auseinandersetzungen“ statt. Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Politiker*innen und Jurist*innen aus allen Teilen der Welt  diskutierten über die historischen, ideologischen und militärischen Aspekte des sogenannten IS und erarbeiteten Perspektiven für die weitere Bekämpfung der Terrororganisation.

In den letzten Monaten sind zahlreiche Menschen, die in das einstige Kalifat des sogenannten IS reisten, dort lebten und die Strukturen des IS oftmals aktiv unterstützten, wieder nach Deutschland zurückgekehrt – unter ihnen auch viele Frauen mit ihren Kindern. Nun stehen in Deutschland die ersten Personen aufgrund ihrer Mitgliedschaft im IS und ihren menschenverachtenden Taten vor Gericht. Eine wirkliche Aufarbeitung fernab der Orte des Geschehens gestaltet sich als äußerst kompliziert. Zeug*innen und handfeste Beweise für weitere Klärungen von Straftaten zu organisieren gestaltet sich bereits sehr problematisch und wird es auch weiterhin sein. Zudem wird der öffentliche politische Diskurs und die dringend notwendige Verantwortungsübernahme in keinster Weise so gestaltet, wie es sein sollte. Die Strategie der Abschottung und des Aussitzens, wie bereits im Umgang mit den gefangenen IS‘ler*innen in den Lagern in Nord- und Ost-Syrien, ist weiterhin die Grundlage, auf der nun auch die Prozesse starten. Dabei ist eine umfassendere und bedeutendere Aufarbeitung und Kontextualisierung dringend notwendig!

Deswegen rufen wir Jurist*innen, Journalist*innen, Frauenrechtler*innen und Aktivist*innen dazu auf, mit uns gemeinsam die Prozesse im Strafverfahren gegen Taha A.- J. (Frankfurt), Jennifer W. (München), Omaima A. (Hamburg) sowie zukünftige Strafprozesse zu beobachten und Initiativen zu gründen und damit Verantwortung für eine breite zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung der menschenverachtenden und frauenfeindlichen „IS“-Strukturen aus Frauenperspektive zu übernehmen.