Europäische Hexenverfolgung und das kapitalistische Patriarchat

„Unsere Geschichte zu kennen bedeutet, wieder zu wissen, wie wir den Kampf erneut aufnehmen können“, lautete das Fazit einer Veranstaltung der Kampagne „Gemeinsam Kämpfen" zu Hexenverfolgung und Solidarität in Hamburg.

Am gestrigen Abend fanden sich rund 50 Frauen zu der Veranstaltung „Europäische Hexenverfolgung und das kapitalistische Patriarchat“ im Kölibri in Hamburg zusammen.

Aus gegebenem Anlass gaben zwei Aktivistinnen zu Beginn eine Einführung ins Thema Rojava/Nordostsyrien, informierten die Anwesenden über die in der Türkei stattgefundene Absetzung der HDP-Bürgermeister*innen in Amed (Diyarbakir), Mêrdîn (Mardin) und Wan (Van) sowie die Massenverhaftungen und verlasen folgende Solidaritätserklärung:

„Wir sind hier heute auf der Veranstaltung der feministischen Kampagne „Gemeinsam kämpfen für Selbstbestimmung und demokratische Autonomie“ zum Thema „Europäischen Hexenverfolgung und das kapitalistische Patriarchat“.

Unsere Veranstaltung handelt von Angriffen auf Frauen*wissen in der Geschichte und -kämpfe dagegen. Denn – unsere Geschichte zu kennen bedeutet, wieder zu wissen, wie wir den Kampf erneut aufnehmen können.

Und zeitgleich hören wir von aktuellen Angriffen – in der vergangenen Nacht auf die im März zurückgewonnen Stadtverwaltungen der HDP in der Türkei/Nordkurdistan. Stadtverwaltungen, die schon seit Jahren von Frauenräten getragen wurden, die geschafft hatten, Frauenstrukturen auf allen Ebenen aufzubauen. 2016 wurden sie von der AKP-Regierung unter Zwangsverwaltung gestellt – was zur Folge hatte, dass fast alle Frauenstrukturen und -kooperativen der Stadtverwaltung zerschlagen wurden.

Vor fünf Monaten bei den letzten Kommunalwahlen wurden fast alle Bezirke zurückgewonnen. Und es wurde gleich damit begonnen, das Zerstörte wieder aufzubauen. Bedia Özgökçe Ertan, die gewählte Oberbürgermeisterin der Stadt Wan, erklärte noch letzte Woche: „Das Ziel ist es, eine ‚Frauenstadt‘ aufzubauen. Wir haben gleich am ersten Tag mit der Arbeit am Aufbau der Frauenstadt begonnen. Unter Frauenstadt verstehen wir, dass Frauen sichtbar sind, dass sie von allen öffentlichen Angeboten profitieren können, dass der Lebensraum von Frauen vergrößert wird und dass sie nicht diskriminiert werden.“

Auch in Amed wurden die Frauenproteste wieder sichtbar: Im Rahmen der Kampagne „Erhebe auch du dich für Wandel und Freiheit“ hat der Frauenverein Roza in Amed Anfang August zum Beispiel einen „Lila-Protestkorso“ gegen Männergewalt im Verkehr veranstaltet.

Dass jetzt die Stadtverwaltungen nach nur fünf Monaten wieder unter Zwangsverwaltung gestellt werden und über 413 Aktivist*innen festgenommen wurden, ist wieder ein patriarchaler Angriff der AKP-Regierung. Gleichzeitig plant Erdoğan Angriffe auf das selbstverwaltete Rojava und bombardiert Südkurdistan. Dies soll auch von dem Zerfall des Regierungsbündnisses ablenken.

Wir sind entsetzt – und fordern ein Ende der Zusammenarbeit mit der faschistischen AKP-Regierung. Solidarische, feministische Grüße an die HDP und unsere Schwestern. Wir wünschen euch viel Kraft! Und wir sagen: „Gemeinsam kämpfen für Selbstbestimmung und demokratische Autonomie“, wo immer wir leben!“

Nach der Aufnahme eines Soli-Fotos begann der Vortrag, zu dem eingeladen worden war und in dem die Referentin einen umfassenden Einblick in die jahrhundertelangen Entwicklungen in Europa vor und während der Hexenverfolgung gab und aufzeigte, welche Auswirkungen dies noch auf unsere heutige Zeit hat.

So mancher Irrglaube, der sich durch die dominante Geschichtsschreibung und nicht zuletzt die popkulturellen Adaptionen der Hexenverfolgung in den Köpfen festgesetzt hat, wurde ins Wanken gebracht. So stellte die Referentin gleich zu Beginn klar, dass die Hochzeit der Verfolgung nicht etwa im „finsteren Mittelalter“ vonstatten ging, sondern in der frühen Neuzeit – also bereits während den Anfängen der Aufklärung. Auch kann dieser massenhafte Feminizid nicht durch Hysterie oder reinen Aberglauben erklärt werden, vielmehr muss die Aufmerksamkeit dessen Institutionalisierung und der Verstaatlichung gelten.

Über Jahrhunderte entstand in Europa das Klassensystem der Leibeigenschaft, als Bäuer*innen Schutz vor den Revolten der Sklav*innen suchten und ihre Person sowie all ihren Besitz den Lehensherren verschrieben. Der dafür gewährte Zugang zu Land wiederum entwickelte sich zu dem Verständnis, das jeweilige Land zu besitzen und als solches in Anspruch nehmen zu wollen. Um die daraus entstehenden vielfältigen Aufstände einzudämmen, wurden die Frondienste zu Geldleistungen umgewandelt. Da es für jede Arbeit auf jedem Feld nun Geld gab, verschwand die klare Abgrenzung zwischen Arbeit, die für sich selbst und die eigene Familie erbracht wurde und der, die für den Lehensherrn getan wurde – bis heute findet sich dies im Konzept von Arbeit.

Darüber hinaus hatte dies eine soziale Spaltung zur Folge; die Reichen kauften sich frei, die Armen verloren das wenige Land, das sie bisher bestellen konnten. Die einsetzenden Existenznöte trafen vor allem Frauen und so waren sie es, die in großer Zahl in die Städte zogen, was ihnen schließlich eine ganz neue Form der Autonomie ermöglichte: Sie erhielten Zugang zu einer Vielzahl von Berufen (die erst in der Neuzeit auch rückwirkend als „Männerberufe“ etikettiert wurden), Zünfte wurden mitunter von Frauen geführt, eigene Wohngemeinschaften entstanden. Der Beruf der Hebamme wurde als Spezialgebiet der Medizin ausschließlich von Frauen ausgeübt, die als solche allein Kaiserschnitte durchführten.

Parallel zu diesen Entwicklungen entstand im späten Mittelalter eine Vielzahl sozialer Bewegungen, von denen vor allem die Häresie zu erwähnen ist. Die Häretiker*innen waren über ganz Europa hinweg sehr gut organisiert, wodurch sie über lange Zeit bestehen konnten, trotz der massiven Verfolgung durch die katholische Kirche, gegen die offen zu Widerstand aufgerufen wurde. Mithilfe von Selbstversorgung, Bildung, Öffentlichkeitsarbeit und sogar Selbstverteidigung wollten sie eine neue Gesellschaft formen. Alle Aspekte der Gesellschaft sollten neu definiert werden, sie kämpften für radikale Demokratisierung und gegen soziale Hierarchien. In einem Teil der Bewegung, den Katharer*innen (etymologischer Ursprung des Wortes „Ketzer“), verfügten Frauen über gleiche Rechte und einen hohen Grad an Autonomie. Auch andere Religionsgemeinschaften waren hier toleriert und akzeptiert, in Zeiten des aufstrebenden Antisemitismus entstand so ein Zufluchtsort für Menschen jüdischen Glaubens.

Die Entwicklungen und Konzepte der Kirche und der Herrschenden sahen natürlich ganz anders aus. Die Politisierung von Sexualität führte zu zunehmender und umfassender Kontrolle der Menschen. Die vormals zum Teil aufgrund von Armut akzeptierte Praxis der Abtreibung wurde mit Ausbruch der Pest im 14. Jahrhundert radikal verboten, die häretische Verfolgung zielte zunehmend auf sexuelle Aspekte und die Figur des Häretikers wurde zur Figur der Häretikerin, was letztlich auf das Bild der Hexe übertragen wurde.

Der massive Bevölkerungsschwund durch die Pest führte zu zahlreichen Aufständen und Revolten – die knapp gewordene Arbeitskraft ermöglichte, verstärkt Druck auf die Herrschenden auszuüben. Ziel war bald die vollständige Abschaffung der Feudalherrschaft, deren Nutznießer dies nicht einfach akzeptierten: Die Hexenverfolgung war das grausamste Mittel der Herrschenden, um die Kontrolle über die Bevölkerung wiederzuerlangen.

Erfolgreich wurde dabei versucht, männliche Aufständische zu vereinnahmen und die Klassenspaltung auf die proletarische Frau zu verlagern. Vergewaltigungen solcher Frauen wurden straffrei, was die Solidarität mit diesen zerstörte. Frauenfeindlichkeit nahm zu, die Gesellschaft stumpfte ab. Prostitution, in die viele Frauen gezwungen wurden, da eine Vergewaltigung und der Ausstoß aus der Gesellschaft kein anderes Betätigungsfeld übrig ließen, wurde institutionalisiert und massiv von der Obrigkeit befördert. Bald gab es flächendeckend städtische und selbst von der Kirche betriebene Bordelle, legitimiert durch die vorgeblich dadurch eingedämmten Vergewaltigungen – die zuvor ja selbst vom Staat befördert worden waren.

Dennoch war die Zeit der Feudalherrschaft vorbei und jene des Kolonialismus gekommen. Der ausbeuterische Zugriff auf neue Arbeitskraft, der Ausbau wirtschaftlicher Strukturen und der neue Wohlstand bildeten die Grundlage des kapitalistischen Systems, wie wir es heute noch erleben.

Dies und die Herausforderungen der Zeit – Notstände wie der massive Bevölkerungsrückgang durch Seuchen, Klimawandel und Kriege, steigende Erwerbslosigkeit und die erste Weltwirtschaftskrise Anfang des 17. Jahrhunderts (gleichzeitig die Hochzeit der Hexenverfolgung) – veränderten schließlich auch das Menschenbild. Der Mensch wird zunehmend Ressource des Staates und steht in der Pflicht, für diesen Kinder zu zeugen. Vor allem Frauen bzw. gebärende Menschen wurden kontrolliert, erstmals wurden Geburten- und Bevölkerungsdaten gesammelt, Hebammen wurden durch die Vermännlichung der Medizin aus ihrem Beruf verdrängt, Ehelosigkeit wurde bestraft. Auch die Geburtspraxis änderte sich – erstmalig wurde das Leben des Kindes über das der Mutter gestellt. Überhaupt entstand das Konzept „Kindheit“ und die Frau wurde zur Vermittlerin von Werten. Mutterschaft wurde regelrecht zur unumgänglichen Zwangsarbeit, tradiertes Wissen zu Verhütung und Abtreibung verschwand aus den Köpfen und die Frau aus dem öffentlichen Leben. Sie wurde zunehmend zur Nicht-Arbeiterin, Arbeit im Haushalt zur Nicht-Arbeit und die Ehe zur eigentlichen Karriere. Befeuert wurde dies auch durch den Kampf männlicher Handwerker, die die ums Überleben kämpfenden Frauen, deren Arbeit mit weniger Geld belohnt wurde, als Konkurrenz sahen und mit organisierten Kampagnen und Gewalt darauf reagierten.

Eine neue, patriarchale Ordnung wurde durchgesetzt: Die Arbeitsteilung wird vergeschlechtlicht, Frauen nur in Beziehung zu einem Mann definiert (als Ehefrau, Mutter, Tochter oder Witwe) und ihre Körper als natürliche Ressource begriffen. Von Männern geführte Debatten über „das Wesen der Frau“ veränderte das vor der Hexenverfolgung gesellschaftlich konstruierte Bild als wildes, verschwenderisches und „zankhaftes“ Wesen hin zu einem, auch heute noch vertraut wirkenden Bild: Die Frau als passive, fügsame, keusche und wortkarge Person.