CENÎ: Patriarchale Gewalt betrifft uns alle

In einer Erklärung anlässlich des fünften Jahrestages des Genozids und Feminizids in Şengal ruft das Kurdische Frauenbüro für Frieden dazu auf, die Aufarbeitung der IS-Verbrechen als gemeinsame Aufgabe wahrzunehmen.

Am 3. August 2014 wurden Tausende von Frauen und junge Mädchen aus der ezidischen Gemeinschaft in der Şengal-Region im Norden des Iraks vom sogenannten IS entführt, vergewaltigt, ermordet, verstümmelt und auf Sklavinnenmärkten verkauft. Die systematische und gezielte Gewalt gegen die Selbstbestimmung, die Willenskraft, die Körper und die Identität der Frauen ist nicht weniger als ein Feminizid.

Doch die durch den IS verübte Gewalt gegen Frauen ist unmöglich ohne wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Herrschafts- und Machtstrukturen, die sich im Wesentlichen auf die Unterwerfung von Frauen stützen, um ihre Kriegs- und Ausbeutungspolitik umzusetzen. Nach dem gleichen Prinzip wie vor fünf Jahren in Şengal ist auch im ehemaligen Jugoslawien, der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda, im Irak, Afghanistan, Sudan, Japan und historisch betrachtet unzähligen weiteren Orten sexuelle Gewalt gegen Frauen als Kriegswaffe und zur Unterwerfung anderer Gemeinschaften und Völker eingesetzt worden. Gewalt gegen Frauen ist ein weltweites Phänomen und wird zur Unterdrückung ganzer Gesellschaften eingesetzt. Je nach Ort, Region, Tradition, Kultur ist sie stärker oder weniger sichtbar. Der IS hat seine frauenverachtende Ideologie in die Welt hinausgeschrien, während andere sich besser tarnen. Eigentlich ist der IS nur der aktuellste und offensichtlichste Ausdruck des Patriarchats.

Doch überall auf der Welt wehren sich Frauen gegen alle möglichen Formen sexistischer Gewalt an Frauen. Durch den mutigen Kampf unter Führung der Frauenverteidigungskräfte YPJ und YJŞ konnte im März 2019 der IS in al-Bagouz militärisch geschlagen werden. Mit dem Ende der territorialen Herrschaft des IS ist seine patriarchale ideologische Grundlage noch längst nicht überwunden. Auch befinden sich weiterhin Tausende der entführten Frauen in Sklaverei. Tausende von Frauen wurden traumatisiert und irreversibel versehrt, sie werden ihr Leben lang die gegen sie verübte Gewalt mit sich tragen.

Als Cenî - Kurdisches Frauenbüro für Frieden verurteilen wir den Genozid und Feminizid an der ezidischen Gemeinschaft aufs Schärfste. Mit dem territorialen Sieg über den IS ist die Aufarbeitung der unsäglichen Verbrechen in greifbare Nähe gerückt. Momentan befinden sich mehrere Tausende IS-Mitglieder in Gefangenschaft der QSD und können für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Doch das faschistische AKP-MHP Regime in der Türkei, das den IS logistisch, mit Waffenlieferungen und ideologisch unterstützt, weil es ihn für ihre eigenen Zwecke benutzen wollte, versucht alles, um eine Aufarbeitung der Verbrechen zu verhindern. Sie drohen der Bevölkerung der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien mit einer weiteren Besatzung. Die Hegemonialmächte wie Russland und USA versuchen weiterhin, ihre eigenen Interessen zu verteidigen. Dafür brauchen sie von ihnen abhängige, ebenso patriarchale und nach ökonomischer und politischer Macht strebende Regime, Autokraten und Parteien wie Assad, Erdogan, die AKP oder PDK. Auch die Bundesregierung wehrt sich mit Händen und Füßen gegen ihre Verantwortung und musste deshalb zuletzt vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg an die einschlägigen Grundlagen des Verfassungs- und Völkerrechts erinnert werden. Ihnen allen ist die Selbstorganisierung der Frauen und Gesellschaften Nord- und Ostsyriens, die aus der Erfahrung resultierte immer wieder für Interessen der Kolonialmächte geopfert zu werden, ein Dorn im Auge. Doch uns allen sollte bewusst sein, dass nachhaltige Gerechtigkeit und Frieden nur dann einkehren werden, wenn Frauen und die Gesellschaften sich selbst organisieren und eine autonome Kraft aufbauen, die es ihnen erlaubt, zu den von ihnen gesetzten Bedingungen die Verbrechen des IS aufzuarbeiten.

Wir fordern deshalb eine internationale Aufarbeitung der Verbrechen des IS und seiner Unterstützer nach den Vorstellungen der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens und den darin autonom organisierten Frauen. Wir fordern ein sofortiges Ende der Kriegsvorbereitungen der Türkei für einen Einmarsch in das Gebiet der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien sowie der Besatzung der Gebiete der kurdischen Autonomieverwaltung in Irak.

Wir rufen die internationale Gemeinschaft, die demokratischen, friedensliebenden Kräfte auf, die Aufarbeitung der IS-Verbrechen als gemeinsame Aufgabe wahrzunehmen, und dabei ein Zeichen gegen faschistische, totalitäre und imperialistische Vereinnahmung zu setzen. Wir rufen alle Frauen dazu auf, die Grundlagen des patriarchalen Systems zu erschüttern und die Verantwortung nicht denen zu überlassen, die den IS hervorgebracht haben!

Patriarchale Gewalt hat System und betrifft uns alle! Kein Vergessen, kein Vergeben! Es lebe die Selbstorganisierung von Frauen! Für das Leben, für die Freiheit!