Başak Demirtaş: Frauenbefreiung ist zu groß für Wahlversprechen

Başak Demirtaş äußert sich im JinNews-Interview zu den Wahlversprechen ihres Mannes, des HDP-Präsidentschaftskandidaten Selahattin Demirtaş.

Başak Demirtaş ist mit einem Präsidentschaftskandidaten verheiratet: Selahattin Demirtaş, der im Gefängnis von Edirne bei den Wahlen in der Türkei am 24. Juni für die Demokratische Partei der Völker (HDP) kandidiert. Bêrîtan Elyakut und Nişmiye Güler von der Frauennachrichtenagentur JinNews haben Başak Demirtaş in ihrer Wohnung in Amed (Diyarbakir) besucht und sie nach ihrer Meinung gefragt.

In der Öffentlichkeit sind Sie als Ehefrau von Selahattin Demirtaş bekannt. Sie sind jedoch auch Lehrerin. Wie würden Sie sich selbst vorstellen?

Ich betrachte es als normal, dass ich in der Öffentlichkeit als Selahattins Frau wahrgenommen werde, weil ich selbst kein öffentliches Amt ausübe. Natürlich habe ich trotzdem eine eigene, von Selahattin unabhängige Identität. Ich bin Frau, Kurdin und Demokratin, ich arbeite und ich liebe mein Land. Das sind die wesentlichen Merkmale meiner Identität, die unabhängig von Selahattin bestehen. Dass ich als Frau von Demirtaş bekannt bin, macht mich zwar stolz, aber es ist kein Identitätsmerkmal.

Haben Sie damit gerechnet, dass Selahattin Demirtaş verhaftet wird? Wie sind Sie mit seiner Verhaftung umgegangen?

Als die Immunität aufgehoben wurde, wussten wir, dass er verhaftet werden wird. Wir hatten sogar bereits früher damit gerechnet. Die Festnahme erfolgte dann am 4. November. Natürlich war es nicht einfach, einen Umgang damit zu finden, aber wir waren darauf vorbereitet. Wir sind schließlich ein Volk, das die Erfahrung gemacht hat, dass für jeden Fortschritt ein Preis gezahlt werden muss.

Selahattin hätte ins Ausland gehen können, aber dadurch hätten die Widerstandskraft und die Hoffnung der Partei-Mitglieder geschwächt werden können. Er hat daher im Interesse des Befreiungskampfes und seiner Partei auf seine eigene Freiheit verzichtet. Heute ist eigentlich noch besser verständlich, dass diese schwierige Entscheidung die richtige war. Als Familie ist es für uns und für Selahattin schwer, aber was könnte dieses Volk schon gewinnen, ohne schwere Zeiten zu durchleben? Natürlich würde ich mir wünschen, dass mein Partner, der Mann, den ich liebe, bei mir ist, aber das ist ein sehr egoistischer Wunsch. Selahattin ist nicht mein Eigentum, er ist ein Mensch geworden, der dem Volk gehört. Unsere Beziehung hat nie auf gegenseitigen Besitzansprüchen aufgebaut. In Zeiten wie diesen haben zwangsläufig die Interessen der Bevölkerung Vorrang. Gerade diese Überzeugung ist es ja, die uns auf den Beinen hält.

Selahattin Demirtaş ist einer von sechs Präsidentschaftskandidaten. Im Unterschied zu den anderen befindet er sich seit anderthalb Jahren im Gefängnis. Wird Ihrer Meinung nach dadurch verhindert, dass er mit den Völkern der Türkei zusammentrifft?

Dass er im Gefängnis ist, ist ja nicht der einzige Unterschied zu den anderen Kandidaten. Der größte Unterschied ist, dass er der einzige Kandidat ist, der für Freiheit, Gleichberechtigung und Demokratie eintritt. Es gibt einen Satz, den Selahattin oft gesagt hat: ‚Wir sind aus der Bevölkerung hervorgegangen, aber wir sind nirgendwo hingegangen, wir zählen immer noch zur Bevölkerung.‘ Und das wissen die Menschen ganz genau. Es ist nicht nur dem kurdischen Volk bewusst, sondern allen Völkern der Türkei. Insofern hat auch das Gefängnis die Verbindung zu den Menschen nicht abreißen können, im Gegenteil, die Verbundenheit ist eher noch stärker geworden. Natürlich hindert die Haft ihn daran, vor großen Menschenmengen aufzutreten und seinen Positionen in den Medien Ausdruck zu verleihen. Das ist eine Benachteiligung, die nicht zu unterschätzen ist. Das aktive und passive Wahlrecht wird dadurch angegriffen.

Selahattin Demirtaş hat auch den Frauen Wahlversprechen gemacht. Wie beurteilen Sie diese Versprechen als Frau? Sind sie ausreichend?

Die Erwartungen, Forderungen und Träume der Frauenbefreiungsbewegung sind so groß und dynamisch, dass sie weder in den Versprechen der HDP noch in denen von Demirtaş genug Raum finden können. Zweifellos ist es jedoch die HDP mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Demirtaş, die der Geschlechterfrage die größte Bedeutung beimisst. Frauen, insbesondere die kurdischen Frauen, kämpfen seit langer Zeit gegen Unterdrückung und für eine würdevolle Existenz. Durch den Kampf, den sie innerhalb der Familie, in staatlichen Strukturen, im öffentlichen und privaten Raum führen, befreien sie sich. Selahattin unterstützt diesen Kampf und tritt für die Freiheit von Frauen ein. Das reicht uns natürlich nicht. Wir fordern unsere Freiheit weder von Selahattin noch von irgendeiner Autorität. Wir leisten Widerstand, wir bauen ein Bewusstsein auf und wir nehmen uns unsere Rechte Stück für Stück. „Recht bekommt man nicht, man nimmt es sich“, nach diesem Motto müssen wir vorgehen. Dafür treten auch Selahattin und die HDP ein, und dadurch unterscheiden sie sich von den anderen. Der Kampf gegen patriarchale Weltanschauungen, die Frauen nicht als handelnde Subjekte und gleichberechtigte Individuen innerhalb der Gesellschaft betrachten, muss unentwegt weitergehen.

Wie bewerten Sie die aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei?

Ich bin keine Politikerin und ich stelle auch keine politischen Analysen an, aber ich kann natürlich erkennen, dass der aktuelle Verlauf die Türkei in jeder Hinsicht in eine Katastrophe führt. Armut, Arbeitslosigkeit, die kurdische Frage, die Beziehungen zur EU, die gewalttätigen Konflikte im Mittleren Osten und insbesondere in Rojava machen der Türkei schwer zu schaffen. Die Inflation hat die Armen noch ärmer gemacht. Ich sehe inzwischen überall Menschen, denen es reicht. Trotz dieser schweren Problemfelder besteht innerhalb der Bevölkerung die Hoffnung auf eine Veränderung. Ich gehe davon aus, dass sich diese Erwartung am 24. Juni in den Wahlurnen widerspiegeln wird.