YPG-Mitgliedschaft kann Flüchtlingseigenschaft begründen

Ein Urteil des VG Gelsenkirchen gibt Hoffnung, dass das BAMF und andere Gerichte die Realität mangelnder Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und die tatsächlichen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Kurdistan endlich anerkennen.

Mit Urteil vom 2. Mai 2022 hat das Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verpflichtet, einem Kurden mit türkischer Staatsbürgerschaft die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 a) Asylgesetz (AsylG) zuzuerkennen.

Der Kurde hatte gegen einen Bescheid des BAMF geklagt, mit dem es ihm 2017 nicht nur die Flüchtlingseigenschaft, sondern auch Ansprüche auf Anerkennung als Asylberechtigter oder Gewährung subsidiären Schutzes versagte. Entsprechend stellte das Verwaltungsgericht die Rechtswidrigkeit des entsprechenden Bescheides fest und hob ihn auf. Der Kläger wuchs im nordkurdischen/südosttürkischen Sêrt auf und ging im Frühjahr 2013 als 17-Jähriger nach Rojava, wo er sich später den nordsyrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG anschloss. Im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat wurde er im Februar 2015 bei der Verteidigung Til Temirs schwer verwundet, als ihn eine Kugel in den Kopf traf. Er verlor sein linkes Auge und auf dem rechten Auge sieht er so gut wie gar nicht mehr. Eine medizinische Behandlung war vor Ort nur eingeschränkt möglich.

Aufgrund drohender Verfolgung als YPG-Veteran war eine Rückkehr zu seiner Familie in die Türkei ausgeschlossen. Diese war mittlerweile nach Bursa in der Westtürkei umgezogen, um der anhaltenden Schikane und Repression der türkischen Sicherheitskräfte zu entgehen, die von dem Fortgang des Sohnes erfahren hatten und ihn bereits suchten. So entschied sich der junge Mann, nach Europa zu gehen, um Sicherheit und medizinische Versorgung zu finden. Im November 2016 reiste er in die BRD ein.

Das VG Gelsenkirchen hat nun festgestellt, dass die Mitgliedschaft in der YPG durchaus mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zur Verfolgung in der Türkei führen könne. Diese setze entgegen den Bewertungen der BRD, der EU oder USA die YPG mit der PKK gleich, obwohl die YPG „die Unterstützung durch die internationale Koalition gegen den Islamischen Staat erhalten [hat], in der auch die Bundeswehr aktiv war, wobei die YPG aber nicht auf Waffen zurückgreifen konnte, die Deutschland den Kurden im Nordirak, den Peschmerga-Kämpfern, geliefert hatte. Ihre Kämpfer bildeten das Rückgrat der ‚Syrischen Demokratischen Kräfte‘, die mit Hilfe der USA ausgebildet und bewaffnet wurden. Auf syrischem Boden waren sie die wichtigsten Partner der USA im Kampf gegen den IS und der militärische Sieg über das Terrorkalifat des Islamischen Staates ist zu einem großen Teil der YPG zu verdanken. (S. 19)“

Laut Gericht sei die YPG auch in der BRD nicht verboten und unterliege keinen vereinsrechtlichen Beschränkungen, da keine Identität zwischen YPG und PKK bestehe. Hierbei bezog es sich auf das Urteil des Bayerischen Oberlandesgerichts vom 1. Dezember 2020 zum Verbot der Symbole der YPG und YPJ. Kurd:innen drohe zwar nicht allein aufgrund ihrer Nationalität eine rassistische Verfolgung in der Türkei, aber gerade jenen, denen eine Nähe zur PKK nachgesagt werde, müssten weiterhin mit Repression und rechtswidriger Behandlung rechnen. Der inflationäre Gebrauch des Terrorismusvorwurfs führe zu erheblicher Einschränkung der Grundfreiheiten und der Unabhängigkeit der Justiz: „Terrorismusvorwürfe werden jenseits der Bekämpfung realer terroristischer Bedrohungen inflationär auch gegen politische Gegner genutzt. (...) Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet. (S. 17)“

Hinzu komme, dass gerade die Ablehnung des Asylantrags durch das BAMF das Interesse der türkischen Behörden an der Person des Klägers noch steigern dürfte. Die Schlussfolgerung des Gerichts: „Von daher stellt die Rückkehr des Klägers in die Türkei aktuell für ihn ein unkalkulierbares Risiko dar. Er muss damit rechnen, nach der intensiven Befragung nach der Einreise festgenommen sowie auf unbestimmte Zeit ohne ein rechtsstaatliches Verfahren inhaftiert zu werden, wobei auch mit menschenrechtswidrigen Behandlung oder Folter zu rechnen ist. (S. 21)“

Die YPG-Mitgliedschaft des Betroffenen sei im Übrigen auch kein Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2 AsylG, wonach ihm die Flüchtlingseigenschaft zu verwehren wäre. Dies hatte etwa das VG Hannover 2018 in einer haarsträubenden Entscheidung behauptet und seine krude Urteilsbegründung auf Wikipedia-Einträge gestützt, um zu belegen, dass die YPG den Zielen und Grundsätzen der UN zuwiderhandele (VG Hannover, Urt. v. 20.11.2018 – 13 A 6596/17).

Die Entscheidung des VG Gelsenkirchen gibt hingegen Hoffnung, dass das BAMF und andere bundesdeutsche Gerichte die Realität mangelnder Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und die tatsächlichen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Kurdistan und dem Mittleren Osten endlich anerkennen und zukünftig entsprechende Urteile fällen werden (Aktenzeichen: VG Gelsenkirchen, Urt. v. 02.05.2022 – 14a K 7600/17.A).

Der Artikel ist dem aktuellen Infodienst von AZADÎ e.V. entnommen