Die von Bürgerkriegen und imperialistischen Interventionen im Mittleren Osten ausgelösten Fluchtbewegungen erleben den Höhepunkt der letzten vierzig Jahre. Seit der Besatzung Palästinas 1967 durch Israel und der sowjetischen Besatzung Afghanistans 1979 hat das Problem geflüchteter Menschen der Reihe nach in Iran, Irak, Syrien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien und weiteren Ländern zugenommen. Laut offiziellen Angaben haben in den letzten zehn Jahren fünf Millionen syrische Staatsangehörige Zuflucht in der Türkei gesucht. Seit zwei Jahren treffen immer mehr Menschen auf der Flucht vor den Taliban oder der Regierung aus Afghanistan in der Türkei ein.
Anders als die Syrer:innen wollen die Menschen aus Afghanistan nicht weiter nach Europa. Die meisten wollen in der Türkei Arbeit finden. Auf gefährlichen Wegen reisen sie über Kurdistan durch die Türkei, möglichst bis nach Istanbul, Izmir oder Ankara.
Der Ausschuss für die Rechte von Migrant:innen in der Anwaltskammer Amed (tr. Diyarbakir) hat die Situation von Afghanen in der Stadt untersucht. Rechtsanwalt Bawer Mizrak fordert als Ausschussvorsitzender ein Bleiberecht für alle Menschen, die aufgrund von Kriegsfolgen in einem anderen Land Zuflucht suchen.
Kriege und Fluchtbewegungen
In Mesopotamien haben aufgrund von Kriegen und Konflikten in der Geschichte immer Migrations- und Fluchtbewegungen stattgefunden, stellt Rechtsanwalt Mizrak fest. Die Türkei und Kurdistan sind das Tor vom Mittleren Osten nach Europa. Das ist in brutaler Form vor allem mit dem Krieg in Syrien zum Thema geworden. „Aktuell leben ungefähr fünf Millionen registrierte Syrerinnen und Syrer in der Türkei. Was die Fluchtbewegung aus Afghanistan angeht, erinnern wir uns vor allem an die Menschen, die in den 1980er Jahren gekommen und in der Türkei geblieben sind. Eigentlich findet seit vierzig Jahren eine Migration statt. In den letzten Jahren ist eine ernste Zunahme zu beobachten. Nachdem in den sozialen Medien Aufnahmen veröffentlicht worden sind, haben wir als Ausschuss der Anwaltskammer die Afghanen am Busbahnhof besucht. Bei diesem Besuch haben wir festgestellt, dass vor allem Menschen aus Afghanistan dort sind, aber auch aus Nigeria und dem Irak.“
Schwere Fluchtwege
Die Migrant:innen werden von Schleppern für 800 bis 1000 Dollar an die Grenze zur Türkei gebracht, sagt Mizrak: „Einen großen Teil des Weges kommen sie zu Fuß. Sie sagen, dass sie an der Grenze nicht aufgehalten werden und sie keine Situation erlebt haben, in der jemand gestoppt und zurückgeschickt worden ist. Allerdings wurde auch berichtet, dass einige von ihnen Schussverletzungen erlitten haben. Von Afghanistan bis Diyarbakir brauchen sie ungefähr einen Monat. Diese Zeit ist hinsichtlich von Unterkunft, Gesundheitsversorgung und der Unversehrtheit des Lebens höchst problematisch. Sie sagten, dass sie Schlimmes mit Fahrern erlebt haben, wenn sie auf ein Auto angewiesen waren. Letztendlich wollen sie über Diyarbakir nach Istanbul und Ankara gehen. Kaum jemand möchte nach Europa migrieren.“
Keine Sicherheit und keine Perspektive
Am Busbahnhof in Amed befinden sich nach Angaben des Anwalts ungefähr tausend Schutzsuchende. „Sie leben dort ohne Unterkunft und Lebensmittelhilfe. Unter ihnen sind auch Frauen und Kinder. Die Mehrheit besteht aus Männern im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Sie sagen, dass sie wegen des Aufflammen des Krieges in Afghanistan hergekommen sind, weil sie wirtschaftlich bedingte Probleme haben und ihr Leben nicht sicher ist.
Einige wollen zu ihren Verwandten in der Westtürkei ziehen und dort arbeiten. Diese Situation wird zu billigen Arbeitskräften und jeder Form der Ausbeutung führen. Möglich wäre auch, dass sie von paramilitärischen Kräften benutzt werden. Nach den Syrern kann jetzt auch mit den Afghanen sowohl in der Türkei als auch in Kurdistan eine demografische Veränderung stattfinden.“
Gefahr der Ausnutzung
Bawer Mizrak von der Anwaltskammer weist darauf hin, dass die Betroffenen als „irreguläre Migranten“ keinerlei Rechte haben: „Krankenhäuser können sie nur in Notfällen aufsuchen, es gibt keine staatliche Unterstützung in Form von Unterkünften oder Verpflegung. Deshalb müssen sie einen juristischen Status bekommen. Die Türkei hat sowieso erst nach der Genfer Konvention den Begriff Flüchtling definiert. Akzeptiert werden jedoch nur Flüchtlinge aus Europa. Aus dem Mittleren Osten oder der weiteren Umgebung Kommende werden nicht als Flüchtlinge anerkannt. Für die Syrer ist 2014 eine Bezeichnung namens ,Vorübergehender Schutzstatus' etabliert worden, aber das hing mit der Massenmigration zusammen. Jetzt kommen immer mehr Afghanen. Die Türkei muss ihnen einen Status wie den Syrern geben.“