Verteidigungsministerium verklagt Demirtaş auf Schmerzensgeld

Das türkische Verteidigungsministerium hat den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş wegen dessen Forderung nach einer Untersuchung von Chemiewaffenangriffen gegen die PKK-Guerilla auf Schmerzensgeld verklagt.

Der kurdische Politiker Selahattin Demirtaş ist wegen Aussagen rund um den mutmaßlichen Einsatz von Chemiewaffen in der Kurdistan-Region Irak (KRI) vom türkischen Verteidigungsministerium verklagt worden. Wie das Anwaltsteam von Demirtaş mitteilte, sieht die Behörde der türkischen Streitkräfte in den Äußerungen des 49-Jährigen „ihr Ansehen und ihre Würde” verletzt und fordert Schmerzensgeld. Die geforderte Summe beläuft sich auf 100.000 Türkische Lira - umgerechnet etwa 5200 Euro. Außerdem habe der Politiker „Propaganda für eine Terrororganisation” betrieben. Wegen derselben Vorwürfe hat die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara ein gesondertes Verfahren wegen eines angeblichen Verstoßes gegen Artikel 301 eingeleitet. Der berüchtigte Paragraf verbietet das Verächtlichmachen von Türkentum, Republik, staatlichen Institutionen und Staatsorganen.

Konkreter Grund der juristischen Schikane gegen Selahattin Demirtaş sind Beiträge im Kurznachrichtendienst Twitter, die auf seinem offiziellen Profil in Umlauf gebracht wurden. Darin fordert der Politiker die Einberufung einer unabhängigen Untersuchungskommission für mögliche Einsätze von chemischen Kampfstoffen beziehungsweise Giftgasen durch die türkische Armee gegen die PKK-Guerilla in Südkurdistan. „Niemand sollte auch nur einen Moment vergessen, dass Chemiewaffeneinsätze Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, die nicht verjähren”, mahnte Demirtaş und legte Opposition sowie Parlament nahe, angesichts der von der Guerilla sowie kurdischen Medien verbreiteten Aufnahmen von Chemiewaffenangriffen und ihren Opfern nicht zu schweigen: „Denn Schweigen bedeutet eine Zustimmung für das Verbrechen.“

Das Verteidigungsteam von Demirtaş, der seit 2016 in Edirne inhaftiert ist, reagierte empört auf die neuesten Ermittlungen gegen den früheren Ko-Vorsitzenden der HDP. Die Justiz sei im festen Griff der Regierung und fungiere als Vollstreckungsorgan des anti-oppositionellen Verfolgungswahns. Anders könne die sich „jenseits von Gesetz, Vernunft und Logik” bewegende Vorgehensweise nicht erklärt werden. In Wahrheit habe die Klage zum Ziel, die Meinungsfreiheit und die Freiheit der politischen Diskussion in den Würgegriff zu nehmen und die Gesellschaft einzuschüchtern. „Dieser neue Schritt der Justiz ist auch ein Ausdruck der seit Jahren gegen Selahattin Demirtaş praktizierten und mittlerweile institutionalisierten Praxis der Intoleranz und des Hasses.“ Wann das Verfahren beginnt, ist noch unklar. Sollte Demirtaş verurteilt werden, drohen im allein wegen Verstoß gegen Artikel 301 bis zu zwei Jahre Haft.

Westen schweigt zu Chemiewaffenangriffen

Berichte über türkische Chemiewaffenangriffe in Kurdistan, darunter auch 2018 und 2019 in Rojava, gibt es bereits seit Jahren. Ungeachtet internationaler Verbote setzt die Türkei diese geächteten Kriegsmittel sowohl gegen die Guerilla als auch gegen die Zivilbevölkerung in großen Mengen weiter ein, wie die Volksverteidigungskräfte (HPG) bereits seit Monaten immer wieder betonen. Auf Appelle und Aufforderungen der kurdischen Gesellschaft und ihrer Organisationen, diesen Vorwürfen nachzugehen, reagierte die internationale Staatengemeinschaft bislang mit Ablehnung.