„Es geht um Hilfe in der Not“, sagte Innenministerin Nancy Faeser der Berliner Zeitung. „Wir wollen ermöglichen, dass türkische oder syrische Familien in Deutschland ihre engen Verwandten aus der Katastrophenregion unbürokratisch zu sich holen können“, so die SPD-Politikerin. Es gehe darum, dass die Menschen in Deutschland „Obdach finden und medizinisch behandelt werden können“. Diese Versprechen erweisen sich als zynisches Manöver, mit dem die Hoffnungen unzähliger Erdbebenopfer geweckt werden, nur um anschließend an der deutschen Einreiseverhinderungsbürokratie zu zerschellen.
Eltern müssten ihre Kinder im Krisengebiet zurücklassen
Die Bundesregierung hat offenbar bewusst die angeblich unbürokratische Einreiseregelung so angelegt, dass nur ein Bruchteil der Menschen mit Angehörigen in Deutschland überhaupt einreisen kann. So ist die Einreise nur für Angehörige ersten oder zweiten Grades, also Eltern, Kinder oder Geschwister möglich. Da die deutsche Botschaft und Konsulate in der Türkei ihre Telefone offenbar abgeschaltet haben und für Anfragen größtenteils nicht erreichbar sind, konnte ANF lediglich über die eingerichtete Hotline des Auswärtigen Amtes Informationen über die Rechtslage einholen. Offenkundig wird die Verwandtschaftsregelung äußerst restriktiv ausgelegt. Beispielsweise könne eine Schwester oder ein Bruder der in Deutschland befindlichen angehörigen Person vom beschleunigten Verfahren profitieren, ihre Ehepartner:in und auch ihre Kinder aber nicht. Das bedeutet, dass obdachlose Familien ihre Kinder und Angetraute zurücklassen müssten, um in den Genuss der „Erholung“ in Deutschland zu kommen.
Das Visum als Klassenfrage
Weiterhin ist eine Verpflichtungserklärung notwendig. In dieser Erklärung muss die einladende Person rechtsverbindlich ihr Einkommen nachweisen und unter anderem die Bezahlung der medizinischen Versorgung der Angehörigen garantieren. So wird das Versprechen angeblicher Gesundheitspflege privatisiert und an die Angehörigen ausgelagert. Ohnehin wird von den Angehörigen ein entsprechender Wohlstand verlangt. So ist eine Einladung nur bei ausreichendem Einkommen möglich. Die Verpflichtungserklärung kann laut Auskunft des Auswärtigen Amtes auch von niemand anderem als den Einladenden abgegeben werden. Das bedeutet, dass Partner:innen oder Freund:innen keine Verpflichtungserklärungen für eine Einladung abgeben können und damit insbesondere arme Familien, die sich ohnehin schon in einer prekären Lage befinden, de facto von der Möglichkeit, ein Visum zu erhalten, ausgeschlossen sind.
„Wer beim Erdbeben keinen Aktenordner mit Dokumenten bei sich hatte, wird im Stich gelassen“
Hinzu kommen die Voraussetzungen für Dokumente: Ein Pass oder vorläufiger Reisepass, Nachweise über die Verwandtschaft ersten oder zweiten Grades, eine Meldebescheinigung aus einer von der Katastrophe getroffenen Provinz und der Umstand, man sei „nachvollziehbar individuell vom Erdbeben besonders betroffen“, sind Vorrausetzung. Ausgeschlossen sind zum Beispiel alle Syrer:innen oder Angehörige von Menschen, die keinen dauerhaften Aufenthaltstitel in Deutschland haben. Die fluchtpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Clara Anne Bünger, kommentiert via Twitter: „Wer nicht zufällig zum Zeitpunkt des Erdbebens einen Aktenordner mit allen wichtigen Dokumenten bei sich hatte, als das Haus einstürzte, wird von dieser Bundesregierung im Stich gelassen. Es ist absolut unverständlich und unmenschlich.“
Eine Verbeugung vor der Unmenschlichkeit
Offenbar beantwortet damit die Bundesregierung, die von der „Bild“-Zeitung am Sonntag gestellte Frage „Können wir wirklich noch mehr Flüchtlinge aufnehmenden?“, in der ein deutsches „Wir“ konstruiert wird, und das Wort „können“ doch vielmehr „wollen“ meint, de facto wie die rechtspopulistische Presse mit „Nein“. Da das eine Rot-Grüne-Regierung noch nicht offen zu äußern wagt, werden unüberbrückbare Hürden aufgebaut.