Temelli: Wir müssen den Wirtschaftsfaschismus stoppen

Die türkische Wirtschaft ist unter der Last des Krieges äußerst anfällig, sagt der DEM-Vizefraktionsvorsitzende Sezai Temelli. Grund dafür sei die Weigerung, die kurdische Frage mit demokratischen Methoden zu lösen.

Wirtschaftspolitik und Kommunalwahlen in der Türkei

Im Vorfeld der Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März zeigen aktuelle Daten, dass sich die Wirtschaft verlangsamt. Indikatoren sind das schrumpfende Leistungsbilanzdefizit, der Rückgang der Industrieproduktion und die Arbeitslosenzahlen. Das Programm unter der Leitung von Wirtschaftsminister Mehmet Şimşek sollte die Inflation senken, aber der Anstieg der Wechselkurse hat neue Diskussionen ausgelöst. Obwohl die internationale Ratingagentur Fitch letzte Woche die Kreditwürdigkeit der Türkei von B auf B+ und den Ratingausblick von „stabil" auf „positiv" angehoben hat, steigt der Wechselkurs weiter an. Hinter den Kulissen wird auch darüber gesprochen, dass Mehmet Şimşek entlassen und die Zinsen wieder erhöht werden sollen. Außerdem wird über eine Einschränkung von Kreditkarten oder ein Verbot von Bargeldvorschüssen spekuliert. Die Tatsache, dass ein großer Teil der Bevölkerung mit Kreditkarten oder Bargeldvorschüssen lebt, wirft die Frage auf, ob eine solche Regelung noch vor den Wahlen getroffen wird oder nicht.

Dass Şimşek am 12. März mit dem türkischen Bankenverband über die Auswirkungen der Straffungspolitik der Zentralbank diskutierte, vermehrt die Fragezeichen hinter diesen Gerüchten. Obwohl Şimşek über Wachstumszahlen sprach, geht die Regierung unter dem Schatten einer möglichen neuen Wirtschaftskrise in die Wahlen. Alle fragen sich, was nach dem Wahlergebnis am 1. April mit den Wechselkursen und der Inflation geschehen wird.

Temelli: Milliarden Dollar fließen in den Krieg

Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der DEM-Partei, Sezai Temelli, hat sich gegenüber ANF zu diesen Entwicklungen geäußert. Mit Verweis auf die wirtschaftliche Lage bei der letzten Wahl und die allgemeinen weltweiten Entwicklungen stellte Temelli fest: „Bereits 2023 war ein Wahljahr. Daher wollte die Regierung eine auf die Wahlen abgestimmte Wirtschaft betreiben. Anfang 2023 gab es ein großes Erdbeben. Das war eine außergewöhnliche Entwicklung mit Folgen für die Wirtschaft. Die türkische Wirtschaft befindet sich in einer sehr schweren Krise. Wir erleben einen Prozess, in dem selbst die Versuche des Weltkapitalismus, aus der Krise herauszukommen, nicht erfolgreich sind. Bei Betrachtung der Gründe dafür können wir das Problem verstehen. Zunächst einmal ist die Krise des Weltkapitalismus eine langfristige Geschichte. Es ist die Krise des Neoliberalismus, und um diese Krise zu überwinden, gibt es überall auf der Welt sehr große politische Spannungen. Politische Spannungen sind kein Rezept für einen Ausweg aus der Krise, im Gegenteil, sie führen zu noch quälenderen Szenen für die Gesellschaften und Völker. Die heutigen Entwicklungen im Nahen Osten in Bezug auf die Kurden und die Palästinenser geben uns einen Überblick über die Situation. Wenn wir in der Türkei auf Rojava oder Başûr [West- und Südkurdistan] blicken, so herrscht dort seit zehn Jahren ein ständiger Kriegszustand, mal mit geringer, mal mit hoher Intensität. Natürlich hat das große Auswirkungen auf die türkische Wirtschaft. Die Regierung beharrt darauf, diesen Krieg fortzusetzen. Ich spreche von der Zeit nach Beendigung des Lösungsprozesses. Aufgrund dieser anhaltenden Kriegspolitik ist die Wirtschaft nicht krisenfest. Es heißt selbst von offizieller Seite, dass 30 bis 35 Milliarden Dollar pro Jahr in den Krieg fließen."

Steigende Militärausgaben und Sparmaßnahmen für die Bevölkerung

Die türkische Wirtschaft sei unter der Last des Krieges äußerst anfällig, so Sezai Temelli. Grund dafür sei die Weigerung, die kurdische Frage mit demokratischen Methoden zu lösen. Die von Wirtschaftsminister Şimşek versprochene Stabilisierungspolitik werde mit Sparmaßnahmen auf dem Rücken von über achtzig Prozent der Bevölkerung ausgetragen, gleichzeitig werden die Militärausgaben erhöht. „Das ist das Szenario, mit dem wir konfrontiert sind. Die Ursache der Krise liegt auf der Hand, aber es wird nichts dagegen unternommen", erklärte der Vizefraktionsvorsitzende der DEM-Partei.

Bedeutung der Kommunalwahlen für den Wirtschaftskurs

Die AKP/MHP-Regierung habe „die türkische Wirtschaft lange Zeit an ein künstliches Wachstum gewöhnt. Das ist sehr schwer zu halten. Jetzt gehen sie zu einer Strategie über, die Wachstum und Krieg zusammenbringt. Zum Beispiel wollen sie der Gesellschaft mit Verweis auf ihre Rüstungsexporte erklären, dass Krieg profitabel ist. Kurz gesagt, sie wollen den Krieg fortsetzen, die Wirtschaft stabilisieren und gleichzeitig wachsen. Das ist natürlich kein mögliches Szenario. Nach den Wahlen am 31. März werden sie versuchen, mit diesem Dreifach-Szenario weiterzumachen, aber wir glauben nicht, dass es sehr lange Bestand haben wird. Für die Zeit nach den Wahlen stehen verschiedene Szenarien zur Debatte. Der Wechselkurs kann hier nicht halten, denn das Leistungsbilanzdefizit ist offensichtlich und die Türkei hat einen sehr ernsten Schuldenkreislauf. Diese Schulden müssen umgerechnet werden können. Es ist nicht möglich, den Wechselkurs auf diesem Niveau zu halten. Es ist auch nicht möglich, die Inflation sehr schnell zu senken. Angestrebt wird eine makroökonomische Stabilisierung innerhalb von zwei Jahren. Damit dies gelingen kann, muss die Türkei ihre politische Krise überwinden oder bis zu einem gewissen Grad lösen. Die erste Säule dabei ist zweifellos eine Lösung der kurdischen Frage auf demokratischem Weg und nicht durch Krieg. Das wird die Krise nicht auf wundersame Weise an einem Tag beseitigen, aber es wäre ein guter Anfang, wenn man die Dinge in Ordnung bringen will. Daher haben die Kommunalwahlen auch eine sehr kritische Bedeutung für die Bestimmung des Wirtschaftskurses. Wir müssen die Wirtschaftspolitik des AKP/MHP-Faschismus stoppen. Wenn die Opposition, vor allem wir, in der gesamten Türkei und insbesondere in Kurdistan, einen großen Erfolg erringen kann, wovon wir überzeugt sind, werden wir die Legitimität dieser Regierung in Frage stellen. Diese Fragwürdigkeit wird das stärkste Hindernis für die Verwirklichung ihrer Wirtschaftspolitik sein."

Foto: Sezai Temelli mit dem DEM-Vorsitzenden Tuncer Bakirhan im Wahlkampf in Kelê (tr. Malazgirt), 12. März 2024