Temelli: „Mehmet Şimşek ist Verfechter der neoliberalen Marktwirtschaft“

Mehmet Şimşek soll im neuen Erdoğan-Kabinett das Finanzressort führen und die kriselnde Wirtschaft des Landes wieder auf Kurs bringen. Als Verfechter der neoliberalen Marktwirtschaft wird er die Krise nicht lösen können, meint Sezai Temelli (YSP).

Nach Angaben des türkischen Finanzministeriums wurde für das Jahr 2020 ein Haushaltsdefizit von 172,7 Mrd. TL ausgewiesen. Im Jahr 2021 stieg die Zahl auf 192,2 Mrd. TL, 2022 belief sich das Haushaltsdefizit auf 139 Mrd. TL.

Erdoğans wirtschaftliche Präferenzen

Sezai Temelli, Abgeordneter der Grünen Linkspartei (YSP), hat sich gegenüber ANF zur türkischen Wirtschaft geäußert. Der promovierte Ökonom weist darauf hin, dass das wirtschaftliche Bild nach den Präferenzen von Erdoğan gestaltet wurde und dass diese Präferenzen auf der Wiederaneignung des Faschismus beruhen. „Die Wirtschaftsführung hat uns bis heute wirklich ein Katastrophenszenario vor Augen geführt. Vor allem, weil die Wirtschaftspolitik der letzten fünf Jahre auf der Grundlage des Faschismus gestaltet wurde, war sie die Ursache für die ökonomischen Probleme, die wir heute erleben. Mit anderen Worten: Die heutigen wirtschaftlichen Probleme stehen in direktem Zusammenhang mit den politischen Entscheidungen, die jenseits der Probleme, die sich aus der inneren Struktur der Wirtschaft ergeben, getroffen wurden. Wenn wir diesen Prozess betrachten, haben die politischen Präferenzen von Erdoğan und der von ihm eingeschlagene Weg die Wirtschaft an diesen Punkt gebracht“, so der türkische Politiker, der früher Ko-Vorsitzender der Demokratischen Partei der Völker (HDP) war.

Kriegswirtschaft und Korruption

Weiter erklärte Temelli: „Ja, einige Entwicklungen in der Welt, die Pandemie und die globale Krise haben sich natürlich ausgewirkt, aber nicht genug, um die Situation zu erklären, in der wir uns heute befinden. Denn wenn man sich andere Länder und die Welt anschaut, dann gibt es kein anderes Land, das eine so tiefe Krise erlebt wie die Türkei. Wenn man sich den Elendsindex ansieht, steht die Türkei an zehnter Stelle. Es gibt Länder wie den Sudan, die vor ihr liegen. Das zeigt uns, wie weit Armut und wirtschaftlicher Zusammenbruch bereits fortgeschritten sind. Einer der Hauptgründe dafür ist die Institutionalisierung des Faschismus. Um diesen aufrechtzuerhalten, hat man auf die Kriegswirtschaft gesetzt. Zudem hat die Korruption ein unglaubliches Ausmaß erreicht. Die Türkei rangiert in Studien über Korruption weltweit unter den ersten fünf. Und natürlich spielen auch die ungerechtfertigte Bereicherung und die planlose Verwendung der Ressourcen des Landes eine wichtige Rolle in diesem Ranking."

Seit fünf Jahren kontinuierliches Haushaltsdefizit

Auf die Frage, wie nachhaltig diese Wirtschaftspolitik ist, antwortete Temelli: „Sie kann nur aufrecht erhalten werden, indem man alle Ressourcen verschwendet. Der Haushalt zeigt ja auf, wie die Ressourcen verwendet werden. Die Haushalte der letzten fünf Jahre wurden durchweg so aufgestellt, dass ein solches Wirtschaftsverständnis aufrechterhalten wurde. Ein solches Haushaltsverständnis hat natürlich die Eigenschaft, die Wirtschaftskrise zu vertiefen, statt sie zu verhindern. Das Haushaltsdefizit und wie es verwaltet wird, ist ein wichtiger Maßstab. In der letzten Zeit hat die Türkei ein ständiges Haushaltsdefizit verzeichnet, und es ist gestiegen. In diesem Jahr wird ein riesiges Haushaltsdefizit entstehen. Das Defizit für 2023 wird sogar noch höher sein als 2022.

Wichtig ist auch, wie das Haushaltsdefizit finanziert wird: Das Haushaltsdefizit wird durch eine inflationäre Politik finanziert. Die Regierung versucht, das Haushaltsdefizit bis zu einem gewissen Grad zu decken, indem sie von den Bürgerinnen und Bürgern die Steuern einzieht, die sie von den Reichen nicht durch Steuererhöhungen einnehmen kann. Andererseits heizt sie durch das Drucken von Geld durch die Zentralbank die Inflation an und versucht, das Defizit in der Staatskasse zu schließen. Wenn sich all dies überschneidet, schüren sowohl die defizitäre Wirtschaftspolitik als auch diese Art der Finanzierung einerseits die Krise und vertiefen andererseits die Armut. Aber natürlich hat die Wirtschaft nicht nur ein Haushaltsdefizitproblem. Neben dem Haushaltsdefizit gibt es ein Außenhandelsdefizit, ein Leistungsbilanzdefizit und ein Spardefizit; es handelt sich also um ein Mehrfachdefizit und eine Wirtschaft, die unter dem Druck dieses Defizits steht. In einer solchen Situation muss die Wirtschaft auf sehr ernsthafte Weise diszipliniert werden. Wenn die Disziplinierung der Wirtschaft immer noch eine Option ist, die auf Kosten der Werktätigen und der Bevölkerung in einer Situation geht, in der die Armut so groß ist und die Werktätigen in einem solchen Ausmaß ausgebeutet werden, bedeutet dies Zerstörung und ein unerträgliches Leben für die Menschen im Land.

Soweit wir wissen, gibt es keine Aussicht auf eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik. Vor allem die Versprechungen und wirtschaftlichen Maßnahmen während des Wahlkampfes haben die Situation noch schwieriger gemacht. Es scheint keinen Ausweg aus dieser Situation zu geben. Es fehlt der politische Wille, dies zu tun. Denn das Fortbestehen der politischen Linie, die darauf abzielt, den Faschismus zu institutionalisieren, wird uns in der kommenden Zeit begleiten."

Mehmet Şimşeks Priorität sind die Finanzmärkte

Sezai Temelli ist der Meinung, dass eine Wirtschaft, die von Mehmet Şimşek geführt wird, um die Finanzmärkte zu entlasten, der Bevölkerung und den Arbeiter:innen nichts bringen wird: „Mehmet Şimşek ist ein Verfechter der neoliberalen Politik. Die Priorität von Mehmet Şimşek werden die Finanzmärkte sein. Es geht darum, das Vertrauen der Finanzmärkte zu gewinnen und neue Kredite, neue Schulden, neue Luftschlösser zu öffnen. Kennt sich Simsek in der Wirtschaft aus? Natürlich tut er das, aber eben hinsichtlich des Kapitals. Die Antwort auf die Frage, inwieweit er sich mit der Wirtschaft in Bezug auf die Gesellschaft auskennt, in Bezug auf die Lösung der Probleme, die wir erleben, wird aus seiner Praxis in der Vergangenheit ersichtlich.

Mehmet Şimşek und das Team von damals haben ein Verständnis, das die wichtigsten Säulen, die die Wirtschaft vielleicht über Wasser halten und die Krise bekämpfen könnten, entwurzelt und durch Privatisierungs- und Verschuldungspolitik aufs Spiel gesetzt hat. Şimşek ist einer der wichtigsten Vertreter der neoliberalen Marktwirtschaft. Mit einer solchen Mentalität kann man die herrschende Krise nicht lösen. Aber wenn es darum geht, die Türkei neu zu vermarkten, eine neue Privatisierungswelle in Gang zu setzen, neue Kreditzapfstellen zu öffnen, dann ist das eine Botschaft an bestimmte Kapitalgruppen, die die Wirtschaft in Ordnung bringen wollen: ,Seht her, wir sind entschlossen.' Selbst wenn sie zehn Mehmet Simseks bringen, gibt es keinen Ausweg aus der Wirtschaftskrise und diesem wirtschaftlichen Zusammenbruch, in den wir hineingezogen werden."