„Rojava – Frühling der Frauen“ in Herford

Die Theologin Daniela Nischik hat in Herford über ihre Eindrücke aus Rojava berichtet.

Am 7. März 2019 fand im Kreishaus Herford eine Diskussionsveranstaltung zum Thema „Rojava – Frühling der Frauen“ statt. Eingeladen hatte die „Initiative für eine Partnerschaft der Regionen Herford und Rojava (Nordsyrien)“ in Kooperation mit weiteren Organisationen und mit den Gleichstellungsstellen der Gemeinden Bünde, Enger, Herford, Hiddenhausen, Löhne und Vlotho.

Als Referentin war eingeladen die Berliner Theologin Daniela Nikisch, die im Mai 2018 gemeinsam mit einer Frauendelegation die Kantone Efrîn, Kobanê und das damals noch im Aufbau befindliche Frauendorf JINWAR besucht hat.

Diskussionsleiter waren die Mitglieder der Partnerschaftsinitiative Ulrich Adler und Friedel Böhse. Um den Teilnehmern der Veranstaltung erste Eindrücke zum Thema zu vermitteln, begann die Einführung mit dem von ARTE produzierten Film „Syrien – Rojava stellt Frauen gleich“.

Der Film zeigt eine Reise vom Tigris bis zum Euphrat und die verschiedenen Regionen der Demokratischen Föderation Nordsyrien. Die Folgen des jahrelangen Krieges gegen den IS in Nordsyrien sind Flüchtlingslager, provisorisch aufgebaute Zeltdörfer und zerbombte Städte. Nichts desto trotz geht es den Menschen in der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien darum, ein gemeinsames Miteinander aller Ethnien und Religionen zu schaffen und im „Gesellschaftsvertrag“ festzuschreiben. Eines der Ziele des Gesellschaftsvertrags ist eine gleichberechtigte Beteiligung von Frauen in allen Bereichen und Ebenen. Als Beispiel wird im Film eine Kommission gezeigt, in der die dortigen Frauen im Gespräch mit Männern für das Aufbrechen patriarchalischer Strukturen in deren Köpfen, gegen Polygamie, Zwangsehen und Gewalt gegen Frauen kämpfen. An der Universität Rojava gibt es den Studiengang „Jineologie“ - Wissenschaft der Frauen (auch Kurdischer Feminismus genannt), bei dem Multiplikatorinnen die Möglichkeit erhalten, diese Wissenschaft zu erforschen und an junge Frauen weiterzugeben. Neben diesen Errungenschaften zeigt die ARTE-Reportage auch die blutige Seite des Krieges. Der Krieg hindert die Menschen nicht daran, ihre Vision eines friedlichen, gemeinsamen Lebens aufzubauen. Die ARTE-Reportage schließt mit den Worten, dass in Nordsyrien eine „echte gesellschaftliche und politische Revolution“ stattfindet: „Einzigartig im Mittleren Osten und von allen Seiten bedroht.“

Denn der Kampf gegen die Dschihadisten ist lange nicht vorbei. Nach den Siegen der YPG/YPJ über den IS greift der türkische Staat die Bevölkerung in der Demokratischen Föderation Nordsyrien an. Begonnen wurde im Januar 2018 mit dem Angriff auf Efrîn, wo über eine Viertel Million Menschen vertrieben worden ist.

Hier steigt die Referentin Daniela Nikisch in ihren Reisebericht ein. Das erste Ziel der Delegationsreise war die Region Şehba. Nach der türkischen Militärinvasion ist über die Hälfte der Bevölkerung aus Efrîn geflohen. Die arabische Bevölkerung ging zum Großteil nach Aleppo. Kurden wurde die Einreise nach Aleppo nur gegen Zahlung von 2000 Dollar erlaubt, was die meisten Menschen nicht besaßen. So flüchteten die Menschen nach Şehba, wo sie unter Zeltplanen unter schlimmsten hygienischen Zuständen leben müssen. Die Sterblichkeit in diesen Flüchtlingsdörfern ist wegen der mangelnden Hilfe von außen hoch. UNICEF hilft nur sehr sporadisch, der Kurdische Rote Halbmond (Heyva Sor a Kurdistanê) versucht die Menschen mit Nahrungsmitteln und Medizin zu versorgen, was durch die vielen Checkpoints auf dem Weg in die Region immer schwieriger wird.

Obwohl die Geflüchteten zurück in ihre Häuser nach Efrîn wollen, hindert sie die türkische Regierung daran, erklärte Daniela Nikisch. In die leerstehenden Häuser hat die Türkei Dschihadisten einziehen lassen. Das Ziel der Türkei ist die Veränderung der Bevölkerungsstruktur. Vor dem Angriff war die Bevölkerung zum größten Teil kurdisch. Die türkische Siedlungspolitik verfolgt das langfristige Ziel, Efrîn mit der türkischen Grenzregion Hatay zu verbinden. Der Gouverneur von Hatay wurde im April 2018 von dem türkischen Präsidenten Erdoğan auch zum Gouverneur von Efrîn ernannt.

Die erkämpften Freiheiten der Frauen werden Schritt für Schritt wieder aufgehoben, erzählt die Referentin. Wie der IS in den einst eroberten Regionen festschrieb, so müssen sich auch in Efrîn die Frauen wieder verschleiern und dürfen ohne Männer nicht alleine auf die Straßen.

Die Theologin Daniela Nikisch erklärte, dass in Efrîn ein Genozid stattfindet und kritisierte, dass die westlichen Länder und Medien hierzu schweigen.

Der Gesellschaftsvertrag beinhaltet Rechte für alle Ethnien und Religionen, so wie das Recht auf Religionsfreiheit, welcher neben den Frauenrechten ebenfalls festgeschrieben worden ist. Und dieser fortschrittliche Vertrag, dessen Vordenker der auf der türkischen Insel Imrali in Isolationshaft gehaltene kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan ist, ist der türkischen Regierung und seinen dschihadistischen Schergen ein Dorn im Auge.

Die Delegationsreise führte die Frauengruppe weiter nach Kobanê. Kobanê war im September 2014 vom IS angegriffen worden, wurde aber von den kurdischen Volksverteidigungskräften (YPG/YPJ) erfolgreich verteidigt.

Letzte Station der Reise war der Besuch des damals noch im Aufbau befindlichen Frauendorfes JINWAR. In diesem Dorf finden Frauen Schutz, deren Männer im Kampf gefallen sind, geschiedene Frauen und Frauen, die Gewalt und traumatische Erlebnisse erfahren haben. JINWAR ist am 25. November 2018, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt an Frauen, offiziell eröffnet worden. Es ist sowohl als Zufluchtsort von, mit und für Frauen sowie als Ökodorf konzipiert. Die Frauen bauen ihr eigenes Gemüse an und halten Nutztiere.

Den Abschluss der Diskussionsveranstaltung bildeten Fragen der interessierten Zuhörer über die Zukunft der Demokratischen Föderation Nordsyriens, die türkische Politik gegenüber den Kurden, Kritiken der Teilnehmer über das Schweigen der deutschen Regierung und der hiesigen Medien und aus aktuellem Anlass Informationen über die derzeitigen Hungerstreiks von Kurd*innen in der Türkei, Kurdistan und überall auf der Welt.