Protest und Gedenken an Genozid in europäischen Städten

In vielen europäischen Ländern fanden Protest- und Gedenkveranstaltungen wegen des IS-Genozids an der ezidischen Gemeinschaft vor neun Jahren statt. Bei den Protesten wurde die Forderung nach Anerkennung der ezidischen Autonomie laut.

Der 3. August ist seit dem Jahr 2014 ein finsterer Tag. An diesem Tag vor neun Jahren begann der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) mit seinem Massenmord an der ezidischen Bevölkerung der Şengal-Region im Nordirak. Tausende wurden ermordet und unzählige Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppt. Viele sind bis heute verschwunden. Durch den Einsatz einer zunächst nur neunköpfigen Guerillagruppe konnte der IS zurückgedrängt und Hunderttausende von der südkurdischen PDK (Demokratische Partei Kurdistans) und der irakischen Armee schutzlos zurückgelassene Ezid:innen anschließend mit Unterstützung der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) nach Rojava evakuiert werden. In einem langen Kampf wurde Şengal befreit und eine Selbstverwaltung aufgebaut. Diese Verwaltung ist jedoch in Gefahr. Auf Initiative der türkischen Regierung setzen PDK und irakische Regierung alles daran, die Selbstverwaltung von Şengal auszuschalten und die Region unter ihre Kontrolle zu bringen. Deshalb fordern die Ezid:innen eine internationale Anerkennung der Autonomie. Am 3. August gingen in Europa viele Menschen für diese Forderung auf die Straße, so etwa in Schweden, der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Deutschland.

In Deutschland haben unter anderem in Darmstadt, Mannheim, Kiel, Stuttgart, Saarbrücken, Hamburg, Bremen und München Protestaktionen stattgefunden.

Kundgebung in Darmstadt


Die Kundgebung auf dem Luisenplatz in Darmstadt begann mit einer Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer des Völkermordes. Die Rednerinnen und Redner erinnerten an die IS-Verbrechen vom 3. August und die Komplizenschaft von Staaten wie der Türkei mit dem selbsternannten Kalifat. Dabei wiesen die Protestierenden darauf hin, dass auch nach neun Jahren noch Tausende der entführten und in die Sklaverei verkauften Frauen und Kinder vermisst werden. Gleichzeitig wurde an die Befreiung von Şengal und Gefallene wie Mam Zekî und Egîd Civyan erinnert und die offizielle Anerkennung der Autonomie der Region gefordert.

Mannheim: Kundgebung am Paradeplatz


Auch in Mannheim versammelten sich Menschen zum Protest und Gedenken. Die Aktivistinnen und Aktivisten forderten die Anerkennung der Autonomie von Şengal und riefen immer wieder „Mörder IS – Mörder Erdoğan“. Dadurch stellten sie die Zusammenarbeit zwischen dem IS und der Türkei ebenso heraus wie die permanenten Drohnenangriffe der türkischen Luftwaffe auf zivile und militärische Vertreterinnen und Vertreter der Selbstverwaltung in Şengal.

Kiel: Internationalistischer Protest


In Kiel organisierten Jiyana Jin, das Demokratische Kurdische Gesellschaftszentrum und Defend Kurdistan gemeinsam eine Kundgebung auf dem Europaplatz. Nach einer Ansprache von Defend Kurdistan, in der der IS-Genozid und auch die aktuellen Luftangriffe auf Şengal durch den NATO-Staat Türkei verurteilt wurden, ergriff eine Sprecherin von Jiyana Jin, der Initiatorin des Protests, das Wort. Sie erinnerte daran, dass die YPG und YPJ sofort nach den Angriffen 2014 damit begannen, einen Sicherheitskorridor nach Rojava zu errichten, über den dann hunderttausende Ezid:innen vor dem IS fliehen konnten. Es werde heute versucht, ein sicheres Umfeld zu schaffen und so die Rückkehr der Bevölkerung zu ermöglichen. Dazu müssten sich aber alle europäischen Staaten dafür einsetzen, dass der türkische Staat seine Angriffe einstelle.

Saarbrücken: Autonomie ist der einzige Weg, um neue Verfolgung zu verhindern


In Saarbrücken veranstalteten das Kurdische Demokratische Gesellschaftszentrum Saarland und der ezidische Rat Sîwana gemeinsam eine Kundgebung vor der Europagalerie. Die Aktivist:innen versammelten sich unter Fahnen von Êzdîxan, YPG, YPJ, YJŞ und vieler kurdischer Organisationen und trugen Transparente, auf denen an den Genozid erinnert und die Kräfte, die den IS unterstützen, verurteilt wurden. In den Reden wurde gefordert, dass endlich ausreichend Anstrengungen unternommen werden müssten, damit die verschleppten ezidischen Frauen und Kinder gefunden werden. Gleichzeitig sei die Autonomie der einzige Weg, eine Wiederholung des Geschehenen zu verhindern. Außerdem wiesen die Aktivistinnen und Aktivisten darauf hin, dass der IS-Genozid mittlerweile von 13 Ländern und Institutionen als solcher anerkannt worden sei. In diesem Sinne müsse sich die internationale Gemeinschaft dafür einsetzen, dass die durch den Genozid geschlagenen Wunden auch praktisch gelindert werden.

Stuttgart: Erinnern ist unsere Pflicht


In Stuttgart hatten der Verband von Frauen aus Kurdistan in Deutschland (YJK-E) sowie TekoJIN (Bewegung der kämpferischen jungen Frauen) zum Protest aufgerufen. An der Kundgebung nahmen Aktivistinnen und Aktivisten aus Kurdistan, der Türkei sowie Vertreterinnen und Vertreter von revolutionären Organisationen in Deutschland teil. Neben großen Bannern mit Worten und Bildern, auf denen der Genozid verurteilt wurde, wurden auch Transparente mit der Aufschrift „Jin Jiyan Azadî“ und Fahnen der YPG und YPJ gezeigt.

Zwei mit schwarzem Hidschab bekleidete junge Frauen machten in einer Performance auf das Schicksal der vom IS verschleppten ezidischen Frauen aufmerksam. Die ezidische Frauenbewegung erklärte in ihrem Redebeitrag: „Der 3. August ist für uns alle ein Tag der Trauer. Es ist ein Tag, an dem wir die Verantwortung übernehmen müssen zu erinnern, damit das, was geschehen ist, nicht vergessen wird.“ Frauen und Kinder zündeten Kerzen vor den Bannern an, um der Gefallenen von Şengal zu gedenken. Die Kundgebung endete unter der Parole „Jin, Jiyan, Azadî“.

Hamburg: „Es lebe der Widerstand von Şengal“


Ein weiterer Ort des Protests war Hamburg-Altona. Auf der dortigen Kundgebung sprach unter anderem die kurdische Politikerin Selma Irmak und forderte die Anerkennung der Autonomie der Şengal-Region, um eine Wiederholung des Genozids zu verhindern. Irmak sagte: „Der an den Ezid:innen begangene Völkermord wurde an der gesamten Menschheit begangen. Die Staaten, die zu diesem Völkermord schweigen, sind genauso dreckig wie der IS, der dieses Verbrechen begangen hat. Um solches Leid zu verhindern, müssen wir als Volk unsere Einigkeit und Solidarität stärker denn je machen.“ Immer wieder erschallte die Parole „Es lebe der Widerstand von Şengal“.

Proteste in der Schweiz

In der Schweiz fanden Protestaktionen in Bern, Luzern, Basel, Aarau, Lausanne, Genf und Zürich statt.

Bern: Şengal ist Symbol des Widerstands


Auf der Kundgebung in Bern sprach zunächst Songül Çelik von der Alevitischen Föderation (FEDA) und erklärte: „Wir verurteilen den Völkermord an der ezidischen Gemeinschaft. Mit diesem Völkermord soll das freie Leben in Ketten gelegt werden. Die Bevölkerung von Şengal ist ein großartiges Beispiel des Widerstands."

Luzern: Theaterperformance zum Genozid


In Luzern rief der Frauenrat Arîn Mirkan gemeinsam mit TekoJIN zum Protest auf. Auf der Kundgebung erregte insbesondere eine Theaterperformance, in der der Genozid durch den IS thematisiert wurde, die Aufmerksamkeit. Nach einer Schweigeminute für die Gefallenen ergriff die Ko-Vorsitzende des CDK-Luzern, Nurşen Demir, das Wort und sagte: „Am 3. August 2014 verübten die IS-Söldner mit Unterstützung des türkischen Staates und dem Verrat einiger Kurden grausame Verbrechen an Tausenden unschuldigen Frauen und kleinen Kindern in Şengal. Die Schrecken, die ihnen angetan wurden, waren furchtbar. Sie bekamen weder Essen noch Trinken. Es fällt uns schwer, ihnen überhaupt zuzuhören, wenn wir ihre Geschichten hören. Sie wurden wie Waren auf arabischen Basaren verkauft.“ Die Kundgebung endete mit Widerstandsparolen.

Aarau: Täter verfolgen


In Aarau organisierte der Frauenrat Rojbîn eine Kundgebung vor dem Hauptbahnhof. An der Kundgebung nahmen zahlreiche Menschen aus Kurdistan sowie Internationalistinnen aus der Schweiz teil. Nach einer Schweigeminute wurde in einer Theaterperformance der Moment nachgestellt, als die vom IS unterdrückten Frauen nach ihrer Befreiung ihren Hidschab abwarfen. Anschließend stiegen Ballons mit Wünschen für Şengal in die Luft. Die Vertreterin des Frauenrats Rojbîn, Dilan Çetinkaya, erklärte, dass der Kampf für die Bestrafung der Täter des Genozids weiter verstärkt werden sollte.

Zürich: Internationales Tribunal errichten


Der Frauenrat Bêrîtan hatte in Zürich dazu aufgerufen, sich für eine Gedenkkundgebung am Helvetiaplatz zu versammeln. Ayşe Dicle vom Frauenrat Bêrîtan forderte in ihrem Beitrag die Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Verurteilung der Genozid-Täter und die allgemeine Anerkennung des Völkermords. Im Anschluss an die Reden fand auch hier eine Performance statt, in der der Kampf der kurdischen Frauen gegen den IS dargestellt wurde.