Völkermordgedenken: Fünf Minuten Stillstand in Şengal

In Şengal im Nordirak ist im Gedenken an die Toten des vor neun Jahren vom IS begangenen Genozids und Femizids an der ezidischen Gemeinschaft für fünf Minuten das Leben angehalten worden. Der 3. August 2014 wird niemals in Vergessenheit geraten.

In der Şengal-Region im Nordwesten des Irak ist im Gedenken an die Toten des vom „Islamischen Staat“ (IS) vor neun Jahren begangenen Völkermords an der ezidischen Gemeinschaft erinnert worden. Um zehn Uhr Ortszeit wurde für fünf Minuten in allen Ortschaften das Leben angehalten. Der Verkehr stoppte, die Menschen unterbrachen ihre Alltagsbeschäftigungen, überall herrschte Stillstand. In Xanesor, Sinûnê und der Stadt Şengal fanden Gedenkzeremonien statt, die von Institutionen der Selbstverwaltung organisiert wurden. Auch in den Dörfern der Region gedachten die Menschen ihrer Toten und Vermissten.


Yusif Cuan Heci aus Xanesor sagt, dass sie das Leben für die Gefallenen des Ferman von 2014 angehalten haben. Ferman ist der Begriff, mit dem die Ezid:innen die Massaker und Vernichtungsoperationen in ihrer Geschichte bezeichnen. Während der Begriff im osmanischen Sprachgebrauch für ein Dekret des Sultans steht, nahm das Wort in der ezidischen Gemeinschaft die Bezeichnung für Verfolgungen und Pogrome an. Der Genozid und Femizid, der mit dem fluchtartigen Rückzug der PDK-Peschmerga und dem Einmarsch des IS am 3. August in Şengal begann, war der 74. Ferman in der ezidischen Geschichte. „Wir waren mit einem Ferman konfrontiert und es wurde ein Massaker durchgeführt“, sagt der Ezide Heci: „Dieser Tag darf nicht in Vergessenheit geraten und wir müssen der Gefallenen gedenken. Der Ferman richtete sich gegen uns alle. Wir werden niemals vergessen, wer uns an diesem Tag zur Hilfe gekommen und wer uns verraten hat.“


Xalid Şengalî, Mitglied des Volksrats von Xanesor, wies bei dem Gedenken darauf hin, dass noch längst nicht alle in Massengräbern verscharrten Leichen exhumiert und identifiziert worden sind: „Die Knochen unserer Gefallenen liegen immer noch in Massengräbern. Viele dieser Massengräber sind noch unberührt. Wir fordern, dass sie geöffnet werden.“

Der ezidische Geistliche Feqir Şivan sagte: „Heute ist ein schwarzer Tag für uns und wir gedenken aller Gefallener von Êzdîxan. Alle Ezidinnen und Eziden müssen heute zusammenkommen. Am 3. August 2014 wurde unsere Heimat zerstört. Aber kein Ferman hat die Eziden vernichten können.“

Mindestens 73 Verfolgungswellen

Es wird davon ausgegangen, dass die Ezid:innen seit dem zwölften Jahrhundert Opfer von mindestens 73 Verfolgungswellen wurden. Zuletzt am 3. August 2014, als der selbsternannte IS in der dezidierten Absicht in Şengal einfiel, die ezidische Kultur auszulöschen. Zehntausenden Ezidinnen und Eziden blieb nur die Flucht ins Gebirge. Doch nicht allen gelang sie rechtzeitig. Die Dschihadisten verübten Massenmorde an Männern, verschleppten Frauen und Kinder, um sie zu vergewaltigen, zu versklaven oder zu Kindersoldaten zu rekrutieren. Schätzungen nach fielen über 10.000 Menschen diesen Massakern zum Opfer. Mehr als 400.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt, bis heute werden noch über 2.500 von ihnen vermisst. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Femizid dar.

Als der IS-Angriff begann, verteidigte eine neunköpfige Guerillagruppe der PKK die auf den Şengal-Berg geflohene Bevölkerung. Mit Unterstützung weiterer Bataillone der HPG und YJA Star sowie von Kämpfer:innen der YPG und YPJ konnte ein Fluchtkorridor nach Rojava freigekämpft werden, über den Hunderttausende Menschen gerettet wurden.