Anwältinnen und Anwälte haben in Ankara gegen die Aushebelung des Verfassungsgerichtsurteils zur Freilassung des TIP-Abgeordneten Can Atalay protestiert. Zu dem „Marsch für Rechtsstaatlichkeit“ hatte der Anwaltskammerverband der Türkei (TBB) aufgerufen. Die Anwaltskammer Ankara forderte ihre Mitglieder auf, gemeinsam vom Justizpalast zum Kassationshof zu laufen, um gegen die „versuchte Liquidierung der Verfassung“ zu protestieren.
Die dritte Kammer des Kassationshofs hatte am Mittwoch Strafanzeige gegen die Mitglieder des Verfassungsgerichts gestellt, die die Freilassung des inhaftierten Abgeordneten Atalay angeordnet hatten. Die offenkundige Aushebelung des höchsten Gerichts der Türkei wird von Anwaltskammern und Oppositionsparteien als „juristischer Putsch“ bewertet. Der TTB-Präsident Erinç Sağkan sprach bei der heutigen Protestaktion von einer Entwicklung, in der die Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt werde. „Wir verteidigen unter allen Umständen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz“, erklärte der Anwaltskammerpräsident. Er lehne eine politische Intervention ab, das Problem müsse auf juristischer Ebene geklärt werden.
Der Protestmarsch endete vor dem Verfassungsgericht und wurde von Politiker:innen der HEDEP und CHP unterstützt. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel bewertete die Äußerungen von Staatspräsident Tayyip Erdoğan am Freitagvormittag als Anzeichen für die Beendigung der verfassungsrechtlichen Ordnung in der Türkei. Erdoğan hatte gegenüber Journalist:innen erklärt, der Verfassungsgerichtshof habe viele Fehler gemacht, was er sehr bedauere. Der Kassationshof sei ebenfalls ein hohes Gericht und fordere Sanktionen gegen das Verfassungsgericht ein. „Unser Parlament bewegt sich bei diesem Thema schwerfällig. Viele Terroristen sind ins Ausland geflohen, weil die Prozedur der Aufhebung ihrer Immunität im Parlament zu langsam war“, so der türkische Staatschef, der am kommenden Freitag in Berlin von Bundeskanzler Olaf Scholz empfangen wird.