Protest an der Boğaziçi-Universität: „Wir geben nicht auf“

Die Proteste an der Istanbuler Boğaziçi-Universität gehen trotz massiver Unterdrückung weiter. Vor dem Rektorat haben Hunderte Lehrende und Studierende gegen die Massenfestnahmen protestiert.

Vor dem Rektorat der Istanbuler Boğaziçi-Universität haben Hunderte Akademiker*innen und Studierende gegen die brutalen Festnahmen von Montagabend protestiert. Dabei hielten sie Schilder mit der Zahl „159“ für die Anzahl der Festgenommenen und ein Transparent mit der Aufschrift „Wir senken unseren Blick nicht, wir akzeptieren es nicht, wir geben nicht auf“ in den Händen. Das Transparent bezog sich auf die Aufforderung eines Polizisten an einen festgenommenen Demonstranten, dem verboten worden war, den Kopf zu heben. Eine Videoaufnahme davon ist massenweise in digitalen Mediennetzwerken verbreitet worden und hat zu einem Sturm der Entrüstung geführt. Bei dem heutigen Protest drehten die Anwesenden dem Rektorat den Rücken zu und forderten erneut den Rücktritt des Anfang Januar von Tayyip Erdogan persönlich als Rektor berufenen AKP-Politikers Melih Bulu sowie die Freilassung aller Festgenommenen.

In einer Erklärung der Initiative „Boğaziçi-Solidarität“ wurde die Situation an der Universität mit einem „offenen Gefängnis im Ausnahmezustand“ verglichen. Der Campus sei von Scharfschützen, Aufstandsbekämpfungsfahrzeugen und Einheiten der Bereitschaftspolizei besetzt worden. Weil die universitäre Autonomie gefordert wird, „können wir unsere eigene Hochschule nicht betreten und werden von Polizisten geschlagen“, so die Solidaritätsinitiative, die eine Fortsetzung des Kampfes ankündigte. Die Polizei war am Montag mit einem massiven Aufgebot in den Campus eingedrungen, auf Gebäudedächern wurden Scharfschützen postiert.

Menschenrechtsorganisationen verurteilen staatliche Repression

Die Istanbuler Zweigstellen des Menschenrechtsvereins IHD und der Menschenrechtsstiftung Türkei (TIHV) haben in einer gemeinsamen Erklärung die Repression gegen die Studierenden und den Lehrkörper als verfassungswidrigen Angriff auf demokratische Rechte verurteilt. Die Regierung wurde zur Einhaltung der Gesetze und der Menschenrechte sowie zur Beendigung des polarisierenden Vorgehens an den Universitäten aufgefordert.

Solidarität der Studierenden der Galatasaray-Universität

Studierende der Galatasaray-Universität haben sich mit dem Protest an der Boğaziçi-Universität solidarisiert. In digitalen Netzwerken wurde eine Erklärung veröffentlicht, in der der „Angriff auf die Forderung nach demokratischen und autonomen Universitäten“ als nicht hinnehmbar bezeichnet wurde. Die Belegschaft der Boğaziçi-Universität verteidige mit ihrem kollektiven Widerstand das Ideal der Hochschulautonomie, die Voraussetzung für wissenschaftliche Freiheit sei. „Wir fordern die Freilassung der festgenommenen und verhafteten Studierenden, die Beendigung der polizeilichen Intervention an den Universitäten und die Wahl der Rektoren durch die Belegschaft der Hochschulen“, hieß es in der Erklärung.

Auch in zahlreichen weiteren Universitäten in der Türkei fanden Protestaktionen gegen die Massenfestnahmen in Istanbul statt.

Hintergrund: Angriff auf universitäre Autonomie

Seit Anfang Januar wehren sich Studierende und Lehrende in der Türkei gegen den Schlag der Regierung gegen die universitäre Autonomie. Mit der Ernennung von fünf Hochschulrektoren löste Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nach der Jahreswende heftige Auseinandersetzungen an türkischen Universitäten aus. Die Einmischung des Regimechefs in das Amt der Rektoren stellt einen autoritären Akt dar, der weite Kreise zieht. Insbesondere die Einsetzung des AKP-Parteigängers Melih Bulu an der Boğaziçi-Universität hat einen Protest losgetreten, wie es ihn an türkischen Hochschulen lange nicht mehr gegeben hat. Trotz Polizeigewalt und Festnahmewellen ließen sich die Proteste bisher nicht niederschlagen, sondern dauern weiter an.

Studierende wegen Volksverhetzung verhaftet

Am Samstag sind zwei Studierende der Boğaziçi-Universität in Istanbul verhaftet worden. Doğu Demirtaş und Selahattin Uğuzeş wird nach Artikel 216/1 vorgeworfen, zu „Hass, Feindschaft oder Erniedrigung“ angestiftet zu haben. Der Paragraph entspricht nach deutscher Rechtsprechung der Volksverhetzung. Grundlage ist ein von der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul geführtes Ermittlungsverfahren wegen einer Kunstinstallation, mit der der Islam verunglimpft worden sei.

Das Verfahren gegen die Studierenden wurde allerdings erst eingeleitet, nachdem türkische Medien eine Lynch-Kampagne entfacht und gemeldet hatten, dass „die LGBT-Perversen“ ein Foto der heiligen Kaaba in Mekka für ihre Protest-Ausstellung gegen Bulu missbraucht haben. Gemeint ist ein Transparent aus der Ausstellung, das die mythische Figur Şahmaran und Regenbogenfahnen zeigt.

Şahmaran gilt in Anatolien, Kurdistan und anderen Regionen im Mittleren Osten als Göttin der Weisheit und Beschützerin von Geheimnissen. An der Lynch-Kampagne beteiligten sich auch Spitzenpolitiker der Regierung, darunter die Minister der Justiz und des Innern, der Vizepräsident, der Leiter der staatlichen Religionsbehörde Diyanet, der Gouverneur von Istanbul und der Vorstand des türkischen Hochschulrats (YÖK).

Innenminister: „LGBT-Perverse“

Innenminister Süleyman Soylu twitterte: „Vier LGBT-Perverse, die die islamische heilige Stätte, die Kaaba, nicht respektiert haben, wurden an der Boğaziçi-Universität festgenommen.“ Der Tweet ist mittlerweile als Hatespeech von Twitter gesperrt worden.