„Das Pariser Massaker war ein professioneller Terroranschlag“

Der Anwalt des am 23. Dezember in Paris angegriffenen Demokratischen Kurdischen Rats, David Andic, bezeichnet den Anschlag als „geplanten, professionellen Terrorangriff“.

Am 23. Dezember 2022 wurden das KCK-Exekutivratsmitglied Emine Kara (Evîn Goyî), der Musiker Mîr Perwer (Mehmet Şirin Aydın) und der kurdische Aktivist Abdurrahman Kızıl bei einem bewaffneten Angriff auf das kurdische Kulturzentrum „Ahmet Kaya" in Paris ermordet. Der Mörder, der 69-jährige William Malet, wurde wegen „vorsätzlichen, rassistisch motivierten Mordes und versuchten Mordes, der auf eine bestimmte ethnische Herkunft abzielt, sowie des Besitzes von nicht zugelassenen Waffen“ verhaftet. David Andic, der Anwalt des angegriffenen Demokratischen Kurdischen Rates Frankreichs (CDK-F), weist im ANF-Interview auf die vielen offenen Fragen bei diesem Anschlag hin und äußert die Befürchtung, dass Beweise manipuliert wurden.

Es gibt viele Fragezeichen im Zusammenhang mit der Ermordung der drei kurdischen Aktivist:innen am 23. Dezember in Paris. Warum nennen Sie den von der Staatsanwaltschaft als „rassistischen Angriff“ eingeordneten Anschlag ein „Terrorattentat“?

Auch ohne Bezugnahme auf die offenen Fragen kann ein rassistischer Angriff als „Attentat“ definiert werden. Das Strafgesetzbuch sieht vor, dass ein Mord individuell oder kollektiv begangen werden kann. Außerdem gibt es den Artikel 421-1 des Strafgesetzbuchs, in dem Terrorismus definiert wird. Mit anderen Worten: Jeder vorsätzliche individuelle oder kollektive Angriff auf das Leben einer Person kann einen terroristischen Akt darstellen. Die Frage, um die es in Bezug auf das Massaker vom 23. Dezember geht, betrifft die Absichten der Person. Man kann sich nicht allein auf die Aussagen des mutmaßlichen Täters verlassen. Auch wenn keine Gruppe oder kein Staat hinter ihm steht, kann er allein ein Attentat, einen Terroranschlag verüben. Was wir in diesem Fall nicht verstehen, ist, warum die Nationale Staatsanwaltschaft für Terrorismusbekämpfung (Parquet National Antiterroriste, PNAT) keine Ermittlungen eingeleitet hat.

Ist der Ansatz der gleiche, wenn Kurd:innen eine Aktion durchführen?

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Als kurdische Jugendliche Graffiti an die türkische Botschaft in Boulogne-Billancourt (einem Vorort von Paris) schrieben und Feuerwerkskörper zündeten, leitete die PNAT automatisch eine Ermittlung ein. Dies wird als „terroristischer Vorfall“ betrachtet. Obwohl der Kurdische Demokratische Rat Frankreichs Ziel von drei Attentaten und mehreren Attentatsversuchen war, wird die Frage nach dem „terroristischen“ Charakter des Anschlags nicht einmal aufgeworfen. Zunächst nimmt die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf, und dann heißt es, „die Definition kann sich ändern“. Das ist es, was beunruhigend ist. Die PNAT nahm die Angelegenheit nicht selbst in die Hand, sondern es wurde direkt darauf hingewiesen, dass es sich um einen rassistischen Angriff handelte und keine terroristischen Absichten vorlagen. In Wirklichkeit wurde die Untersuchung verkehrt herum angegangen. Wenn Kurden Parolen an das türkische Konsulat schreiben, wird die PNAT sofort mobilisiert, weil es sich um einen terroristischen Akt handele, und die Geheimdienste werden aktiviert, aber wenn eine Person den CDK-F angreift und drei Kurd:innen, wenige Tage vor dem Jahrestag der Ermordung von drei kurdischen Frauen im Zentrum von Paris (vor zehn Jahren), ermordet, wird die PNAT nicht tätig. Und es war nicht nur irgendjemand, der ins Visier genommen wurde. Emine Kara, auch bekannt als Evîn Goyî, ist eine offizielle Vertreterin, eine Kämpferin. Trotzdem wurde das wie eine drittklassige Nachricht behandelt. Uns ist nicht bekannt, ob die Nachrichtendienste in dieser Angelegenheit Ermittlungen durchführen. Klar ist jedoch, dass die Mittel, die gegen Graffiti und Feuerwerkskörper mobilisiert wurden, hier nicht eingesetzt wurden.

Das hat politische Hintergründe?

Ich kann nur die Fakten auf den Tisch legen. Es gibt einen Unterschied in der Behandlung. Wenn türkische Interessen ins Visier genommen werden, wird die PNAT automatisch aktiv, aber wenn kurdische Interessen in Frankreich ins Visier genommen werden, wird dies wie eine drittklassige Geschichte behandelt.

Welche Informationen gibt es über den Täter? Er war ja schon bekannt und in Haft. Wie wurde nach seiner Haft mit ihm umgegangen?

Zweifelsohne wirft dieses Vorgehen Fragen auf. Zwischen seiner Entlassung am 12. Dezember und dem Attentat liegen elf Tage. Als er nach dem Attentat festgenommen wurde, entschied man, dass er „vielleicht“ nicht haftfähig sei. Man muss sich fragen, ob er elf Tage vor [dem Attentat] geistig gesund genug war, um von den Richtern freigelassen zu werden. Irgendwo liegt ein Fehler, entweder vorher oder danach. Elf Tage vor dem Attentat wurde er von der französischen Justiz freigelassen und dann zog er los, um drei Menschen zu ermorden und zu versuchen, weitere umzubringen. Es wird auch nicht erwähnt, dass er während seiner früheren Inhaftierung eingewiesen wurde. Während seiner einjährigen Haftzeit war er zu keinem Zeitpunkt in der Psychiatrie. Niemand sprach davon, dass er psychische Probleme hatte. Aber in den französischen Zeitungen wurde diese Karte dann gespielt. Man begann zu behaupten, er sei instabil. Sogar seine Festnahme [nach dem Attentat] wurde aus diesem Grund ausgesetzt. Obwohl er schließlich in seine Zelle zurückgebracht wurde, zeigt die Tatsache, dass seine Inhaftierung unterbrochen wurde, dass alles getan wurde, um zu zeigen, dass sein Zustand pathologisch war.

Er selbst gab bei seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft an, ein „pathologischer Rassist“ zu sein. Ist es nicht seltsam, dass eine geistig instabile Person eine so klare Aussage macht?

Ja, er selbst sagte, er sei ein pathologischer Rassist. Mit anderen Worten: Es gibt einen Patienten, der sich selbst als Patient definiert. Es ist bemerkenswert, dass er sogar den Begriff „pathologischer Hass“ verwendet. Es scheint, dass er in dieser Hinsicht gut beraten wurde. Im Ergebnis haben wir es mit jemandem zu tun, der sich elf Tage lang in guter geistiger Verfassung befand und seine Pathologie nie erwähnt hat. Direkt nach seiner Festnahme spricht er von seinem „pathologischen Hass“ und sagt, er sei krank. Mit anderen Worten: Er ist gesund genug, um unter richterlicher Kontrolle entlassen zu werden, aber wenn es darum geht, in der Haft Fragen zu beantworten, wird er verrückt.

Ist das glaubwürdig?

So definiert er sich selbst, und diese Aussage zieht sich wie ein roter Faden durch die Medien. Ich glaube nicht an die Worte eines Mörders. Wenn jemand den Worten eines Mörders Glauben schenken will, dann ist das seine Sache. Ich bin Anwalt für Strafrecht, ich habe viele Menschen verteidigt, auch Mörder. Ich kann sagen, auch als Anwalt glaube ich das nicht. Ich habe immer Vorbehalte. Er ist kein kranker Mensch, denn er wurde nach einer erneuten Untersuchung in einem psychiatrischen Krankenhaus in die Haftanstalt zurückgeschickt. Es wurde entschieden, dass er vernehmungsfähig war und einem Gerichtsmediziner vorgeführt werden sollte. Er wird alles tun, um sich selbst krank darzustellen. Sein Anwalt wird alles tun, um ihn krank aussehen zu lassen. Es soll geglaubt werden, dass ein kranker Mensch etwas Verrücktes getan hat.

Aber es gibt dunkle Flecken in seiner Vergangenheit, vor allem in der Gefängniszeit, stimmt das?

Es gibt eine Menge dunkler Flecken. Mit wem war er im Gefängnis? Deshalb wollen wir, dass die PNAT das untersucht. Die PNAT ist mit solchen Untersuchungen vertraut. Wir hatten noch keine Einsicht in die Akte, aber wir wollen Folgendes wissen: Mit wem hat er im Gefängnis gesessen? Ist er allein beim Hofgang gewesen? Mit wem hatte er gemeinschaftliche Aktivitäten? Hat er gearbeitet und wenn ja, mit wem? Wer war noch in seiner Zelle?

Es gibt auch unbeantwortete Fragen zu den elf Tagen nach seiner Entlassung.

Mit wem hat er sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis getroffen? Zu wem hatte er Beziehungen, bevor er ins Gefängnis kam? Das sind berechtigte Fragen, die wir stellen. Diese Person, die unter richterlicher Kontrolle freigelassen wurde, als sie sich in einem völlig gesunden Geisteszustand befand, ist zu verrückt geworden, um heute vor Gericht gestellt zu werden. Wenn dem so ist, dann ist notwendig zu klären, was in diesen elf Tagen geschehen ist.

Auch eine Untersuchung eines Angriffs im Jahr 2021 erwies sich als problematisch.

Soweit wir sehen können, war die erste Ermittlung gegen ihn etwas schlampig. Mit anderen Worten, der Angriff wurde mit einer gewissen Geringschätzung behandelt. Ich habe gehört, dass sogar die von ihm angegriffenen Migranten inhaftiert wurden. [Am 8. Dezember 2021 hat Malet in einem Camp von Migrant:innen zwei Personen schwer mit einem Schwert verletzt. Die bei diesem Vorfall Angegriffenen wurden ebenfalls festgenommen, und ehrenamtliche Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen, die den Angegriffenen halfen, wurden mit einer Geldstrafe belegt.] Wir können sagen, dass er bei diesem Vorfall gut davongekommen ist.

Es gibt Zeugenaussagen, wonach der Mörder in einem Auto am Ort des Massakers vom 23. Dezember abgesetzt worden sei. Haben Sie irgendwelche Informationen, die dies bestätigen können?

Es gab eine solche Zeugenaussage, aber es gab auch andere Zeugenaussagen, die das Gegenteil besagten, nämlich dass der Mörder zu Fuß gekommen sei. Es gibt nur eine Zeugenaussage, dass er mit dem Auto gekommen ist.

Macht es einen Unterschied, ob er zu Fuß kam oder nicht?

Selbst wenn er zu Fuß kam, handelt es sich hier um ein Viertel, das auch „Klein-Kurdistan“ genannt wird und in dem es Dutzende kurdische Ladenbesitzer gibt. In jedem Geschäft gibt es Dutzende von Menschen. Wenn er dorthin läuft, kommt er an einem afrikanischen Restaurant, einem asiatischen Restaurant und einem arabischen Lebensmittelladen vorbei, wo viele Menschen direkt vor ihm stehen und die viel besser sichtbar sind. Er kommt auch an kurdischen Restaurants und Cafés vorbei. Aber dort greift er niemanden an. Er nimmt die Mitglieder des CDK-F zuerst ins Visier.

Wollen Sie damit sagen, dass es ein geplanter Anschlag war?

Er hat sie exekutiert. Als er Evîn Goyî angriff, schoss er ihr auch in den Kopf. Das war eine Hinrichtung. Es war eine geplante Exekution. Er wird eines „im Voraus geplanten Angriffs“ beschuldigt. Deshalb sprechen wir von einem „Attentat“. Andernfalls würden wir von Mord sprechen, und wenn er geplant ist, nennen wir das ein „Attentat“. Wir sehen deutlich, dass dies die Arbeit eines Profis ist. Er kommt hierher, er hat einen Auftrag. Er zielt zuerst auf den CDK-F. Vorbei an Restaurants und Geschäften, die voll sind, steuert er den CDK-F an, ein Zentrum, das zu diesem Zeitpunkt fast leer ist, in dem aber eine wichtige Sitzung stattfinden soll. Die Sitzung war in letzter Minute um eine Stunde verschoben worden. Was für ein Zufall, normalerweise wären zu dem Zeitpunkt sehr viele Menschen bei dem wichtigen Treffen gewesen. Wäre das Treffen nicht verschoben worden, wären viele Menschen gekommen. Wenn diese Person also dorthin kommt, zielt sie speziell auf den CDK-F ab.

Ist es nicht merkwürdig, was der Mörder in seinem Verhör über die Gründe für sein Vorgehen gegen Kurd:innen sagte?

Auf die Frage „Warum die Kurden?“ antwortete er: „Es stimmt, dass sie gegen den IS gekämpft haben, aber anstatt sie [die IS-Dschihadisten] hinzurichten, haben sie sie verhaftet.“ Das macht keinen Sinn. Das ist absurd. Trotz solch absurder Behauptungen versucht man uns weiszumachen, dass er dies alles nur getan hat, weil er ein Rassist ist. Was er sagt, ist nicht konsistent. Was er mit diesen Aussagen bezweckt, ist Folgendes: „Ich bin ein Rassist, das ist pathologisch, es ist nicht meine Schuld.“ Vielleicht hat er bei seiner Festnahme absichtlich angegeben, er sei krank, damit er ins Krankenhaus eingeliefert wird. Aber dann haben wir gesehen, dass er schnell abgewiesen wurde. Weniger als 24 Stunden später wurde er in seine Zelle zurückgebracht.

Dieses Motiv ist zweifelhaft. Haben französische Rassisten bisher Kurd:innen ins Visier genommen?

Die französische extreme Rechte hat sich nie explizit gegen die Kurden gerichtet. Die französische extreme Rechte sieht die Kurden nicht als Feind an.

Kann diese Ermittlung in eine Terrorermittlung umgewandelt werden?

Nur weil der Vorwurf des „rassistischen Motivs“ akzeptiert wurde, heißt das nicht, dass sich diese Definition nicht ändern wird. Für uns besteht das Problem darin, dass der Fall nicht von Anfang an als Terrorermittlung behandelt wurde. Lassen Sie mich noch einmal auf unser Beispiel zurückkommen: Als die türkischen Botschaft besprüht wurde, leitete die PNAT zunächst eine Untersuchung ein, aber als es zum Urteil kam, wurde entschieden, dass es sich nicht um einen „terroristischen Anschlag“ handelte. Mit anderen Worten: Sie wurden nur als junge Leute betrachtet, die die türkische Botschaft beschmiert haben. Sehr oft endet es so. Die Definition kann sich auf dem Weg bis zur Urteilsfindung ändern. Problematisch ist jedoch, dass der Fall umgekehrt gehandhabt wird. Mit anderen Worten, man geht von dem Grundsatz aus, dass es sich um keinen Terroranschlag handelt, und dann sagt sogar der Justizminister selbst, dass sich die Definition ändern könne. Warum hat sich die PNAT nicht sofort eingeschaltet? Die PNAT ist mit solchen Untersuchungen vertraut und verfügt über mehr Ressourcen.

Was beunruhigt Sie daran, dass die Ermittlungen nicht von der PNAT eingeleitet wurden?

Unsere Befürchtung ist, dass Beweise verschwinden. In der Tat sehen wir in den Medien, dass das Verfahren bisher nur auf der Grundlage der Aussagen des Täters geführt wird. Wir fordern daher, dass die Ermittlungen von der Nationalen Staatsanwaltschaft für Terrorismusbekämpfung durchgeführt werden.

Sehen Sie bei der Betrachtung dieses Falles einen Zusammenhang mit dem Attentat vor zehn Jahren?

Angesichts der Ähnlichkeiten zwischen dem ersten Attentat vor zehn Jahren und dem Attentat wenige Tage vor dem Jahrestag ist dies eine berechtigte Frage. Es ist legitim zu fragen, ob zwischen diesen beiden Ereignissen ein Zusammenhang besteht. Die Tatsache, dass der CDK-F gezielt angegriffen wurde, führt zu einer solchen Fragestellung.

Trotz zahlreicher Dokumente und Zeugenaussagen über die Rolle des türkischen Geheimdienstes bei den Morden von 2013 ist niemand dafür bestraft worden. Fürchten Sie aktuell ein ähnliches Ergebnis?

Zweifelsohne haben wir diese Sorge. Das Gespenst der Morde von 2013 und der sehr lange, mühsame Prozess und vor allem die Einstufung als „Staatsgeheimnis“ führen letztlich zu der Frage, ob eine ausländische Macht dahinter steckt. Jetzt weiß die Öffentlichkeit auch, dass der türkische Geheimdienst an den Attentaten beteiligt war. Es gibt viele Elemente, die dies beweisen. Wenn es kein solches Problem gäbe, warum würde es dann als Staatsgeheimnis bezeichnet werden? Wenn dieser Fall als Staatsgeheimnis gekennzeichnet ist, bedeutet dies, dass es Informationen gibt, die nicht offengelegt werden sollen. Es handelt sich nicht um einen einfachen Fall, sondern es steckt etwas dahinter. Die Anwälte kämpfen seit zehn Jahren für die Aufhebung des Staatsgeheimnisses. Und ja, wir sind besorgt, dass in diesem jüngsten Fall ein ganzer Teil des Komplexes vertuscht wird. Während der rassistische Charakter des Anschlags angesprochen wird, wird der terroristische Charakter beiseite gelassen. Aber ich wiederhole noch einmal: Ein Mensch kann sowohl ein Rassist als auch ein Terrorist sein. Es kann sich um einen rassistischen Anschlag mit einem terroristischen Ziel handeln. Wir betrachten es als einen terroristischen Anschlag. Wir verstehen die Logik nicht, dass, wenn türkische Interessen ins Visier genommen werden, sehr leicht Antiterrorermittlungen eingeleitet werden, aber wenn Kurden sterben, das nicht geschieht.