Neues Verfahren gegen Demirtaş

Gegen den früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş ist ein Verfahren wegen Terrorpropaganda eröffnet worden. Grundlage bildet unter anderem ein Interview, das der Politiker im Jahr 2016 der Süddeutschen Zeitung gab.

Die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara hat Anklage gegen den früheren Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, erhoben. In der 54 Seiten langen Anklageschrift wird der kurdische Politiker beschuldigt, „Propaganda für eine Terrororganisation“ betrieben zu haben. Die Behörde stützt sich bei den Vorwürfen fast ausschließlich auf Reden und Aussagen, die Demirtaş als parlamentarischer Abgeordneter tätigte, sowie auf angebliche Anzeigen und Beschwerdebriefe von „verärgerten Bürgern“, die an CIMER gerichtet wurden. Bei CIMER handelt es sich um einen Webdienst des Kommunikationszentrums des türkischen Präsidialamts, über den Bürger*innen Beschwerden, Nachrichten und Anfragen an den Präsidenten richten können. 2019 wurden fast 3,2 Millionen E-Mails an CIMER verschickt.

Acht Jahre alte Rede jetzt Terrorvorwurf

Als Grundlage für das Verfahren gegen Demirtaş wird zunächst eine Rede des Politikers herangezogen, die er im Jahr 2012 auf dem 2. Parteikongress der BDP (Partei des Friedens und der Demokratie), der Vorgängerpartei der DBP (Partei der demokratischen Regionen) hielt. Die Staatsanwaltschaft ist der Ansicht, dass im Mittelpunkt des Kongresses nicht wie behauptet die Neuwahl des Vorstands stand, sondern „die Spaltung der Einheit und territorialen Integrität des Staates und die Änderung der Verfassung“. Die Zusammenkunft habe stattgefunden, um die Freiheit von Abdullah Öcalan zu erwirken. Zudem sei versucht worden, die kurdische Arbeiterpartei PKK sowie die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) „zu legalisieren“. Als Beweis wird auf eine Aussage von Demirtaş verwiesen, in deren Rahmen er die zum damaligen Zeitpunkt inhaftierten kurdischen Politiker*innen Hatip Dicle, Selma Irmak, Faysal Sarıyıldız und İbrahim Ayhan als „politische Geisel“ bezeichnete. Diese Anrede sei nur für die PKK typischer Jargon, meint die Staatsanwaltschaft zu wissen.

Zweiter Vorwurf: HDP-Parteitag

Als nächstes wird Demirtaş eine Rede, die er im Februar 2016 auf dem 2. Parteitag der HDP hielt, vorgeworfen. Der Politiker hatte vor dem Hintergrund der Ausgangssperren und Militärbelagerung in kurdischen Städten gesagt: „Wir wollen keine Diktatur in unserem Land, auch von einem funktionierenden parlamentarischen Regierungssystem kann nicht die Rede sein. Wir schlagen vor, dass einige der parlamentarischen Befugnisse der Kommunalverwaltung übertragen werden. Das ist keine Erfindung von uns – denn in demokratischen Ländern kann es keine zentralistische Staatsgewalt geben. In jedem Fall gibt es ein dezentral organisiertes politisches System. Nur weil wir die kommunale Selbstverwaltung verteidigen, bezichtigt man uns des Landesverrats. Dabei sprechen wir von einem Modell, das die Spaltung der Gesellschaft verhindern soll. Man [die Regierung] fragt uns: ‚Wenn ihr euch doch für Autonomie einsetzt, weshalb gibt es dann die Städtekriege?‘. Selbstverwaltung hat nichts mit Barrikaden zu tun. Aber wir müssen uns mit dem Problem auseinandersetzen, das dazu führte, dass Barrikaden und Straßengräben errichtet wurden. Wenn wir es verstehen, ist es sehr einfach, diese Probleme durch Dialog und Verhandlung zu lösen.“

Interview mit der Süddeutschen Zeitung

Auch ein Interview, das Demirtaş im September 2016 der Süddeutschen Zeitung gab, wird ihm jetzt zum Vorwurf gemacht. Konkret geht es um die Antwort auf die Frage „Wieso fällt es der HDP so schwer, sich von der PKK zu distanzieren, auch von der Gewalt?“. Demirtaş äußerte: „Das ist nicht schwer. Ich habe tausende Male gesagt: Wir akzeptieren ihre Gewalt nicht. Wir sind auch absolut nicht der politische Arm der PKK. Aber wir müssen die PKK auch nicht so definieren, wie die Regierung und der Staat dies tun. Das kurdische Volk leidet seit 100 Jahren unter Staatsterror. Die PKK ist eine Gewaltorganisation, die als Reaktion auf diesen Staatsterror entstand. Als 1938 in Dersim ein großes Massaker verübt und kurdische Aleviten vernichtet wurden, gab es noch keine PKK. Nach dem Militärputsch 1980 wurden viele kurdische und türkische Revolutionäre gefoltert. Wir rufen die PKK immer wieder auf, mit der Gewalt aufzuhören.“

Fotos aus Qendîl

Eine weitere Grundlage des Verfahrens gegen den 47 Jahre alten Menschenrechtsanwalt sind Fotos, die im Zuge der Friedensverhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der PKK in Südkurdistan mit Vertreter*innen der kurdischen Befreiungsbewegung entstanden sind. Die HDP hatte in den Jahren 2013 bis 2015 als sogenannte Imrali-Delegation eine Vermittlerrolle zwischen dem türkischen Staat, Abdullah Öcalan und der PKK gespielt, bis die Friedensverhandlungen von Erdoğan einseitig abgebrochen wurden. 

Demirtaş hielt in seiner schriftlichen Verteidigung gegen die Anklageschrift fest, dass seine Aussagen von einem Experten angesehen werden sollten, um eine faire und wirksame Strafverfolgung zu gewährleisten. Offenbar könne sich nur auf diesem Weg herausstellen, dass er Gewalt offen ablehnt und verurteilt.

Die Anklage wurde vom 17. Schwurgerichtshof von Ankara angenommen. Der Prozess soll am 14. Juli eröffnet werden.

Seit Ende 2016 im Gefängnis

Der Politiker und Menschenrechtsanwalt Selahattin Demirtaş wurde am 4. November 2016 zeitgleich mit zahlreichen weiteren Abgeordneten seiner Partei festgenommen und anschließend inhaftiert. Seitdem sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne.

Im Hauptverfahren gegen ihn, das ebenfalls vor dem 19. Schwurgerichtshof Ankara verhandelt wird, drohen dem Politiker 142 Jahre Freiheitsstrafe wegen Terrorvorwürfen. Er ist unter anderem angeklagt, eine Organisation gegründet und geleitet zu haben. Die Anklage baut auf 31 Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während seiner Zeit als Abgeordneter zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren.

Am 2. September 2019 hatte das Gericht überraschend den Haftbefehl gegen Demirtaş aufgehoben. Da er in einem anderen Verfahren bereits zu über vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war, wurde er nicht aus der Haft entlassen. Im November 2018 verurteilte der EGMR die Türkei aufgrund der unrechtmäßigen Untersuchungshaft. Die Straßburger Richter ordneten an, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht gerechtfertigt sei und der Politiker freigelassen werden müsse. Der türkische Staat solle alles tun, um möglichst bald die Freilassung des Politikers zu ermöglichen.

Demirtaş hatte vor dem EGMR geklagt, weil er seine Rechte auf eine angemessene Zügigkeit des Verfahrens gegen ihn, sein Recht auf Meinungsfreiheit und sein Recht auf Unversehrtheit des Lebens verletzt sah. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte jedoch mitgeteilt, die Türkei sei durch das Urteil nicht gebunden. Die türkische Justiz reagierte prompt und bestätigte eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten, zu der Demirtaş am 7. September wegen „Terrorpropaganda“ verurteilt worden war. Mit der Bestätigung des Urteils ist er in der Türkei erstmals rechtskräftig verurteilt.