Nach 20 Jahren: Gedenken an Andrea Wolf
Im TATORT Kurdistan Café in Hamburg ist Andrea Wolf gedacht worden, die vor zwanzig Jahren in Nordkurdistan von der türkischen Armee ermordet wurde.
Im TATORT Kurdistan Café in Hamburg ist Andrea Wolf gedacht worden, die vor zwanzig Jahren in Nordkurdistan von der türkischen Armee ermordet wurde.
Vor zwanzig Jahren ist Andrea Wolf (Ronahî) als Guerillakämpferin in Çatak in der nordkurdischen Provinz Wan vom türkischen Militär ermordet worden. In Hamburg fand gestern ein Gedenkabend für sie im Rahmen des TATORT Kurdistan Café im Centro Sociale statt.
Die Veranstaltung wurde von Freundinnen und Freunden Andrea Wolfs gestaltet, die von ihren Erinnerungen an sie berichteten. Außerdem wurden Filmbeiträge gezeigt. In Videobotschaften aus Rojava erzählten Internationalistinnen, welche Bedeutung Andrea Wolf für sie heute hat.
Ein realistischer Traum von einem anderen Leben
In der Einleitung erklärte Annett Bender: „Die kurdische Freiheitsbewegung konnte auf ihrem steinigen Weg viele unterschiedliche Menschen, aus allen sozialen und gesellschaftlichen Schichten, aus vielen verschiedenen Ländern begeistern und zusammenführen. Ronahî war eine von denen, die für eine Lebensperspektive ihr Leben gegeben hat. Sie, wie alle anderen, hatte einen realistischen Traum, eine Vorstellung von einem anderen Leben ohne die alltägliche Unterdrückung und Bevormundung. Darum hat sie sich organisiert, hat sich immer wieder neue Mitstreiter*innen gesucht, um neue Wege aufzudecken. Der Weg führte sie in die kurdische Bewegung, in die kurdischen Berge.
Die Perspektive der Befreiung teilen
Wir wissen aus ihren Briefen, dass sie gerne zurückgekommen wäre, um ihre vielfältigen Erfahrungen, die sie in Kurdistan machen konnte, mit anderen hier zu teilen – eingreifen auch hier, gegen den imperialistischen Krieg – und auch hier die Perspektive der Befreiung zu entwickeln, die zu einem menschlichen Leben so notwendig ist, wie die Luft zum Atmen. Diese Kraft hatte sie.
In tiefer Trauer mussten wir uns vor 20 Jahren von ihr und vielen anderen verabschieden, die bei der großen Operation der türkischen Armee in Çatak getötet worden sind. Und von vielen weiteren mussten wir uns in der Zeit bis heute verabschieden, von Freundinnen und Freunden, Angehörigen, Kindern, Frauen und Männern, Genossinnen und Genossen. Von der Perspektive eines anderen Lebens ohne Ausbeutung und Unterdrückung, einer Perspektive von einem erfüllten Leben in Würde und Achtung haben wir uns nicht verabschiedet.
Die nationalen Grenzen überwunden
Die kurdische Freiheitsbewegung hat es bisher nicht geschafft, die militärischen Auseinandersetzungen zu beenden. Noch immer herrschen Krieg und Unterdrückung. Nicht nur in Kurdistan, nicht nur im Mittleren Osten. Aber die kurdische Freiheits- und Friedensbewegung hat eine Perspektive geschaffen, die längst die nationalen Grenzen überwunden hat. Eine Perspektive, die zum Beispiel in Rojava gelebt und weiterentwickelt wird. Unser Respekt und unsere Achtung gelten denjenigen, die diese Perspektive mit Leben füllen. Unser Respekt und unsere Achtung gelten den Menschen, die ihr Leben dafür gaben.“
Wolfgang Struwe kannte Andrea noch aus der Zeit aus Frankfurt. Er erzählte von Momenten, wie er Andrea kennenlernte, von ihren Zielen und Wünschen, aber auch davon, wie er von ihrem Tod erfuhr:
„20 Jahre sind schon vergangen, 20 kurze, 20 lange Jahre, als mich, als uns, die Nachricht vom Tod von Ronahî mitten ins Herz traf. Eigentlich so nebenbei kam die Info: ‚Hast du schon gehört ...' Von einem Moment auf den anderen war die Welt eine andere und doch lief alles neben mir so weiter, als wenn nichts geschehen wäre. Es war bereits Abend, Anfang November, kurdisches Theater war in der Stadt ...
Die Leute, Freundinnen und Freunde strömten weiter in die Veranstaltung auf der Reeperbahn. Und jetzt, was ist passiert, Fragen über Fragen? 20 Jahre sind vergangen seit dem Mord an Andrea. Viele sind Gefallen in der Zeit, viel ist passiert. Glückliche Momente, sollte der Frieden zum Greifen nah werden –, schreckliche Momente, mit viel Tod, Verletzungen und Verwüstungen.
An diesem Abend möchte ich das Gedicht vortragen, das ich in Botan im Herbst 93 nach einer großen Militäroperation geschrieben habe:
Menaf, Menaf, wo sind deine Augen
die so herrlich glänzten, wenn du gelacht hast?
Rodi, deine Finger, wo sind deine Finger
und dein Arm Egîd, wo ist dein Arm?
Zoro, Zoro, bei lebendigem Leib haben sie dich verbrannt.
Baran, Cumal, Mervan, wo seid ihr?
Ihr seid nicht wiedergekommen
Viele, sehr viele verlieren wir in diesem Kampf
der uns doch so viel gibt
Viele, sehr viele werden wir noch verlieren, in diesem Kampf
der aber den Menschen neues Leben geben wird.
Oft ist es schwer, das zu verstehen …
Gedenktage haben eine sehr gute Eigenschaft, sie lassen mich innehalten, zurückdenken, in Erinnerungen leben, kurz anhalten im rastlosen Alltag, sie lassen einen nicht schlafen. Und die Vorbereitung auf diesen Tag, diesen Abend haben mich nicht nur Andrea nahe gebracht. Eigentlich denke ich sehr oft an sie, sehe sie vor mir in ihrer lebendigen Art, zumeist lachend, fordernd, drängelnd … es muss was passieren, höre ich sie sagen. Oft frage ich mich auch bei Dingen die ich mache, was sie da wohl wieder dran zu kritisieren hätte und wie schön es wäre, jetzt einfach mal zusammenzusitzen und miteinander reden, sich austauschen. Manchmal ertappe ich mich auch dabei, wie ich ihre Art bei anderen Freundinnen suche und auch finde. In unserer Freundin Ellen, die vor zwei Jahren den Krebs nicht besiegen konnte, habe ich Andrea oft wieder gefunden. Die herrlich erfrischende Art Menschen mitreißen zu können, singend und lachend bei den Arbeiten und trotzdem ernst und beharrend, das selbst gesteckte Ziel erreichen zu wollen.
20 Jahre sind vergangen, in denen viel passiert ist. Gestern, der 9. Oktober ist auch ein Jahrestag gewesen, auch ein Tag zum Nachdenken. Am 9. Oktober vor 20 Jahren hat Abdullah Öcalan Syrien verlassen. Auf Druck der Türkei und der Nato sollte Assad Öcalan des Landes verweisen, Panzer und Soldaten wurden an der Grenze zu Syrien zusammengezogen, um zu zeigen, dass die Drohungen ernstgemeint sind. Mit dem 9. Oktober begann der internationale Komplott, welcher schließlich den Mitbegründer der PKK, den Philosophen und Vordenker und auch großen Internationalisten in die Isolationshaft auf die Gefängnisinsel im Marmarameer Imralı brachte. Verrat und Intrigen, die uns immer wieder umgeben … Jetzt ist er in totaler Isolation, seit zwei Jahren gibt es keinerlei Kontaktmöglichkeiten mehr, weder Angehörige noch Anwälte, die Wege sind dicht und damit auch die Wege zu einem gerechten Frieden.
Der internationale Komplott war auch eine Antwort auf das Streben nach Frieden, nach der Beendigung des Krieges von Seiten der Freiheitsbewegung, von Abdullah Öcalan. Am 1. September 98, dem Weltfriedenstag, hatte er den dritten Waffenstillstand ausgerufen, wieder sollte es ein einseitiger bleiben, denn auch die noch folgenden nutzten der Nato-Staat Türkei mit seinen Verbündeten, um die Bewegung, die Beispiele für eine friedliches Zusammenleben der Völker erkämpfte, zu vernichten. Das ist der rote Faden seit Jahrzehnten, an dem die Staaten und Anhänger der kapitalistischen Moderne zusammenkommen – ihr Ziel, die Vernichtung der Alternative zum menschenverachtenden Kapitalismus – des freien Menschen.
Die Sehnsucht, die Suche nach einem Leben in Freiheit, da bin ich auch wieder bei Andrea. Auf diesem Weg, bei dieser Suche hatte ich das Glück Andrea kennenzulernen und sie schätzen zu lernen. Andrea war schon früh politisch aktiv, freizeit 81 München – Gefängnis, dann Frankfurt – Gefängnis. Gefangensein lernte sie früh kennen, begrenzt auf sich selbst, isoliert, immer auf der Suche, die Mauern zu durchbrechen, mutig sein, mit anderen gemeinsam zur Kraft werden, Leben wollen. Es ist ein schönes Beispiel, das Gisel in dem Film über Andreas Leben erzählt, wie sie im Knast von Preungesheim auf dem Weg zum Hofgang vor der Zellentür anfängt zu singen „Wie viel sind hinter Gitter ...“
Der Kampf gegen die Isolationsfolter für die Zusammenlegung der Gefangen aus RAF und Widerstand brachte uns zusammen, da lernte ich sie kennen. Es war auch ein Kampf, um die Angst vorm Knast zu nehmen, das Widerstand leben ist, egal ob drinnen, hinter den Mauern oder draußen. Es ging um das Aufbrechen der Mauern, auch in den Köpfen, es ging darum, wie Leben und Kampf auch in den Metropolen aussehen kann. Die Isolation durchbrechen und Kollektive, kämpfende Kollektive bilden, auch außerhalb der Gefängnismauern. Die Repression war schon stark in der Zeit, schon für „Kleinigkeiten“ wurden oft hohe Haftstrafen angesetzt. Abschrecken und die sich nicht abschrecken lassen, wegsperren.
Manchmal war ich in Frankfurt, dort lebte Andrea in der Fritze, ein teilbesetztes Haus, mit ihr pulsierte das Leben im Haus. Genossen von Andrea waren nach einer Aktion an der Frankfurter Börse im Zusammenhang eines Hungerstreiks von Gefangenen in Frankreich eingefahren. Andrea war Teil einer Prozess- und Gefangengruppe. Es war eigentlich normal, wir alle hatten „unsere Gefangenen“, die wir besuchten. Und auch zu den Prozessterminen fuhren wir Hunderte Kilometer. Zusammensein mit den Gefangen, auch unter diesen Bedingungen die Isolation durchbrechen. Aber was ich bei dieser Gruppe erlebt hatte, dass hatte ich vorher noch nie erlebt und war auch kaum vorstellbar. Als ich ankam, organisierten sie gerade dass Mittagessen für die Gefangen für den folgenden Prozesstag. Andrea meinte nur, dass konnten wir hier durchsetzen, ist doch wichtig, dass die Genossen an den langen Prozesstagen etwas gutes zu Essen bekommen. Als wenn es eine Selbstverständlichkeit wäre. Auch das war für sie Politik.
Andrea legte in ihre Arbeit viel Kraft und nahm sie ernst, auch bei solchen Sachen wie sich um das Essen der Gefangenen zu kümmern. Oder auch mal Stimmung zu machen und ne Runde zu singen, um Abwechselung in den manchmal langweiligen Prozesstag zu bringen.
Ideen hatte sie und manchmal sprudelte es nur so aus ihr heraus, bremsen war da nicht möglich und manchmal auch schwierig.
Aber Andreas großes Ziel, ihr Wunsch, war eine Kraft zu werden in der Metropole des Kapitalismus. Sie wusste von der Gefährlichkeit dieses Landes, wie es sich langsam wieder zu einer großen, auch militärischen Macht organisierte, und das die Kriege für den Kapitalismus hier überlebensnotwendig sind, von hier ausgehen. Sie wusste von der Kontinuität des Faschismus, dass es nicht die einzelnen Faschogruppen allein waren, von denen die Gefahr ausgeht, sondern das es die sind, die für ihren Profit über Leichenberge gehen. Ein wirkliches Leben ohne Kriege, dafür braucht es eine Kraft im sogenannten Herzen der Bestie Kapitalismus. Sie reiste durch verschiedene Länder, lernte Menschen und Bewegungen kennen, wollte lernen, Leben lernen, Organisieren lernen.
Aber wie kam sie dann nach Kurdistan. Was brachte sie dorthin?
Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus sollte jegliche revolutionäre Perspektive hier vernichtet werden. Gruppen und Initiativen, die sich weiter organisieren wollten, hatten relativ schnell Verfahren nach 129a am Hals, was bedeutet, über Jahre weggesperrt werden zu können. Auch in dem Wohnprojekt in Frankfurt, in dem Andrea wohnte, häuften sich die Durchsuchungen. Und schließlich war für Andrea klar, sie ist wieder im Visier, sie wollen sie haben. Ja, dieses Jahr war noch ein Jahrestag, im März 93 also vor 25 Jahren sprengte die RAF mit ihrer letzten Aktion den fast fertiggestellten Gefängnisneubau in Weiterstadt nahe bei Frankfurt. Obwohl klar war, dass Andrea zu dem Zeitpunkt des Anschlags gar nicht im Land war, sondern ihre Mutter, die zu der Zeit in Guatemala lebte besucht hatte, wollten sie ihr die Beteiligung am Anschlag und Mitgliedschaft anhängen. Zu ihrer Vorladung ist sie nicht erschienen, freiwillig in den Knast, mit einer Perspektive über viele Jahre, dass konnte sie sich damals nicht vorstellen. Aber so richtig vorstellen, dieses Land zu verlassen, dass konnte sie sich auch nicht, denn immer wieder meinte sie, dass doch hier ihr Platz ist. Soll ich nicht doch lieber bleiben, ist es nicht wichtig, die wenigen hier verbliebenen Kräfte zusammenzubringen. Bis zum Schluss zweifelte sie, ob der Entschluss richtig sei, erst einmal zu gehen, sich Raum zu schaffen, Luft zu schaffen. Sie war auch neugierig, denn sie wollte die kurdische Bewegung besser kennenlernen, eine gesellschaftliche Kraft, eine Bewegung die die Befreiung der Frau an die vorderste Stelle stellt. Und sie war neugierig auf die Internationalisten, von denen sie wusste, dass sie in den Bergen Kurdistans sind. Ja, so war sie, in und her gerissen, aber welche Perspektive war zu der Zeit hier? Nein, geflohen ist sie nicht, wie einge behaupten. Auf der Suche nach neuen Wegen hat sie Abdullah Öcalan, die PKK und die Frauenorganisation kennen und schätzen lernen können. Auch in den Bergen Kurdistans hat sie weiter überlegt, wie die Erfahrungen von dort hier eingebracht werden können, wie leben, wie organisieren. Oft sehr technisch, bürokratisch, aber so sind wir.
Wenn es nach Apo gegangen wäre, wäre sie nie in die Berge gegangen, aber diesen ihren Wunsch, das Leben und den Kampf in den Bergen, in der Guerilla kennenzulernen, diesen Wunsch konnte er ihr nicht abschlagen.
Abschließen möchte ich diese meine Worte mit den Zeilen, geschrieben nach dem Herbst, im Winter mit dem Frühling in Aussicht:
Regen Regen Regen | Tropfen
du kannst richtig sehen, wie ein Bach entsteht
wie sich die einzelnen Tropfen zusammenfinden
von den Felsen tropfen, von den Bäumen
und ein längst ausgetrocknetes Flussbett wieder langsam füllen.
Ja, von überall kommen sie, die einzelnen Tropfen
und bringen neues Leben, neues Grün, neue Kraft
und sie machen die Erde wieder sauber, frisch
Ja jeder, jeder einzelne Tropfen ist wichtig
weil jeder dazu beiträgt
ein reißender Fluss zu werden.
Botan, Frühjahr 94“