Prozessbeobachtung in Amed
Der Freispruch von drei wegen fahrlässiger Tötung angeklagter Polizisten im Prozess um den Mord an dem kurdischen Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi in Amed (tr. Diyarbakir) hat über die Türkei hinaus Wellen geschlagen. Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. (RAV) äußerte sich am Mittwoch bestürzt über die schlampigen Ermittlungen und den Freispruch der angeklagten Polizisten. Tahir Elçi war 2015 vor laufender Kamera mit einem Kopfschuss mutmaßlich von der Polizei getötet worden. Der RAV hatte den Prozess als Teil einer Delegation von 16 Anwaltsorganisationen aus ganz Europa beobachtet.
„Ein besonders bedrückender Fall von Straflosigkeit“
„Das ist ein besonders bedrückender Fall von Straflosigkeit“, sagt Miriam Frieding vom RAV, Rechtsanwältin aus Berlin und Teil der Delegation. „Auch wenn der Freispruch der Polizei uns wenig überrascht, ist er dramatisch. Unserem Kollegen, seiner Familie sowie der gesamten Bevölkerung in der Türkei wurde damit jede Gerechtigkeit verwehrt“, so die Rechtsanwältin. Für sie zeigt das Urteil einmal mehr, dass die Justiz im autoritären Regime unter Recep Tayyip Erdogan nicht unabhängig und unparteiisch ist.
„Elçi war ein international geschätzter Menschenrechtsanwalt“
„Der getötete Tahir Elçi war ein international geschätzter Menschenrechtsanwalt, Präsident der Anwaltskammer von Diyarbakır und bekannt, weil er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mehrere Fälle zur Zwangsräumung kurdischer Dörfer, dem Verschwindenlassen von Personen, Hinrichtungen im Schnellverfahren sowie Folter und Misshandlungen staatliche Kräfte geführt hatte“, erklärte der RAV nach der Urteilsverkündung. Der 1966 in Cizre geborene Kurde habe sich für Frieden eingesetzt und gefordert: „Wir sagen, der Krieg, die Kämpfe, die Waffen, die Einsätze sollen fernbleiben von hier.“
Gutachten von Forensic Architecture
Tahir Elçi ist am 28. November 2015 in Amed erschossen worden, zu diesem Zeitpunkt war er 49 Jahre alt. Der RAV weist darauf hin, dass es erst nach einem von der Anwaltskammer in Amed in Auftrag gegebenen Gutachten der unabhängigen NGO Forensic Architecture aus London zu einer Anklage gekommen ist. Die Expert:innen haben den Fall rekonstruiert und in einem Video nachgestellt.
„Durch die 3D-Rekonstruktion von Bauplänen, Video- und Satellitenaufnahmen kamen sie zu folgendem Schluss: Kurz vor dem Tod von Elçi habe es in der Nähe einen bewaffneten Überfall der PKK-Jugendorganisation gegeben, bei dem zwei Polizisten getötet wurden. Die Täter flohen ausgerechnet in die Nebenstraße, in der Anwalt Elçi gerade eine Pressekonferenz abgab, in der er sich für Frieden in den kurdischen Gebieten ausgesprochen hatte. Es liefen zahlreiche Kameras. Als die Täter dort vorbeirannten, eröffneten Zivilpolizisten das Feuer. Getroffen wurde – durch einen Schuss von hinten in den Kopf – nur eine Person: Tahir Elçi. Vor diesem Hintergrund halten die Expert:innen es für wahrscheinlich, dass Elçi durch eine Kugel von einem der drei Polizisten getötet worden sein könnte. Einen Untersuchungsausschuss dazu hatten AKP und MHP abgelehnt. Angeklagt wurden schließlich drei Polizisten wegen fahrlässiger Tötung. Die Anklage hatte eine Haftstrafe von mindestens zwei und maximal sechs Jahren gefordert“, so der RAV.
„Grundprinzipien des Strafverfahrens missachtet“
„Gesehen haben wir allerdings ein Verfahren, das fünf Jahre verspätet begonnen hat und mit riesigen Mängeln behaftet war“, kritisiert Rechtsanwältin Miriam Frieding. „Hier wurden die Grundprinzipien des Strafverfahrens missachtet.“ Die Beobachterin fürchtet, das Urteil könnte abschreckend auf andere gefährdete Anwält:innen wirken.
Der RAV erklärt, dass der Kampf um Gerechtigkeit mit dem Urteil nicht vorbei ist und Berufung eingelegt werden soll: „Die internationale juristische Gemeinschaft ist verpflichtet, diesen Fall weiterzuverfolgen und unsere Kolleg:innen in der Türkei zu unterstützen. Der Kampf gegen Straflosigkeit und für Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit muss weitergehen - so lange wie nötig.“
Auch Anwaltskammern aus Italien, Frankreich, den Niederlanden, Spanien und Deutschland sowie weitere Anwaltsorganisationen haben ihre Bestürzung über das Verfahren und ihre Solidarität mit den Betroffenen zum Ausdruck gebracht.