Leyla Güven: Den Weg demokratischer Politik offen halten

Die HDP-Abgeordnete Leyla Güven hat gegenüber ANF ausführlich Stellung zu den aktuellen politischen Entwicklungen in der Türkei und Kurdistan bezogen. Wir veröffentlichen den zweiten Teil ihres Beitrags.

Seit Tagen sitzen Eltern vor dem Parteibüro der HDP in Amed (Diyarbakir) und fordern ihre erwachsenen Kinder zurück. Die kurdische Politikerin Leyla Güven bewertete diesen inszenierten Protest folgendermaßen: „Wir betrachten diese Mütter ebenfalls als unsere Mütter und sind bereit, mit ihnen zusammen zu sitzen. In dieser Hinsicht gibt es kein Problem. Wir sind bereit, mit ihnen zusammen eine gemeinsame Lösung zu finden. Wenn sie doch nur auch die Friedensmütter und die Samstagsmütter dazu gerufen hätten und eine Lösung zu finden versuchen würden. Aber stattdessen werden sie von bestimmten Gruppen unterstützt und beschimpfen die HDP und die Kurden, was wie eine Provokation und eine organisierte Sache erscheint. Im Grunde sind wir nur gegen diese Tatsache. Denn die Forderung der Mütter nach ihren Kindern ist eine Forderung unser aller und die Grundlage unseres Widerstandes für ein ehrenvolles Leben. Die Mütter sollten sich dessen sobald wie möglich bewusst werden und sich davon abwenden.

Lasst uns zusammen eine gemeinsame Lösung finden

Ich denke, dass sie, statt draußen vor der Tür zu sitzen, herein kommen sollten, um mit uns gemeinsam auf eine Lösung hin zu arbeiten. Es ist nicht richtig, nur beleidigend da draußen zu stehen, denn auf diese Weise sind einer Manipulation und Provokation Tür und Tor geöffnet. Eine Abgeordnete dieses Staates kommt bis vor die Tür der HDP, drittgrößte Partei im Parlament, und besucht aber nur die dort Sitzenden. Bereits dies sagt schon aus, von welcher Seite die Familien geleitet werden. Der türkische Staat hat schon vieles versucht, aber damit nichts erreicht. Es wird sich auch hieraus nichts ergeben. Diese Mütter werden in den nächsten Tagen nach Hause zurückkehren. Zudem sind ihre Kinder keine Kinder mehr. Falls sie wirklich gegangen sind, dann aus eigenem Willen. Sie können dafür nicht eine politische Partei verantwortlich machen. Diese Art von Methoden ist nutzlos.“

Putschmechanismus kommt ins Rollen

Leyla Güven hebt hervor, dass der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan bei den Besuchen seiner Rechtsanwälte auf die Erarbeitung einer neuen Verfassung eingegangen ist, die in Bezug auf die Rechte der Kurden umfangreich sein sollte. Weiter erklärt sie: „Wir betrachten die Entwicklungen in der Türkei als sehr schlecht. Wenn es so weitergeht, kann, wie Herr Öcalan es hervorgehoben hat, der Mechanismus eines Putsches ins Rollen kommen. Die Türkei wird niemals in die EU eintreten und ein demokratisches Land werden. Daher ist ein tiefer Umbruch notwendig. Und der wichtigste Weg dahin ist eine neue Verfassung. Seit Jahren erklärt jede an die Macht kommende Partei, dass eine neue Verfassung verabschiedet werden muss, aber es wird nicht praktisch umgesetzt. Die HDP misst einer neuen Verfassung eine hohe Bedeutung bei. Es finden Gespräche mit vielen verschiedenen Gruppierungen über Konzepte für eine Justizreform und eine neue Verfassung statt. Es ist von großer Bedeutung und braucht Initiatoren. Der CHP fällt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu. Denn sie ist die Hauptopposition und befindet sich in einer Schlüsselposition. Die neue Verfassung muss fern von Vorurteilen und wirklich auf die Bedürfnisse der Gesellschaft zugeschnitten sein. Aktuell gibt es eine regelrecht in der Mitte auseinandergerissene und polarisierte Türkei. Massenhaft wird antidemokratisch gehandelt. Wir können uns bei alldem nicht so verhalten, als wenn nichts sei. Tagtäglich sagen wir, dass die Justiz politisiert wird, aber wir schützen sie nicht mit der Verfassung. Wir müssen die Grenzlinien der Gewaltenteilung neu bestimmen.“

Verlierer sind nicht nur die Kurden

Leyla Güven betont, dass seit Jahren die Voraussetzungen für regionale Selbstbestimmung nicht geändert werden und dies mit den kommunalen Siegen der Kurden in Zusammenhang steht: „Die Kurden sollen nicht von den Selbstbestimmungsregeln profitieren. Dasselbe gilt bei der Erarbeitung einer neuen Verfassung. Es gibt Vorurteile und Ängste. Die Suche nach einer Lösung innerhalb der Ganzheit des Staates sollte niemanden beunruhigen. Dies stellen Herr Öcalan, die PKK-Verantwortlichen, die HDP und das kurdische Volk stets klar. Mit der ‚Repetition eines getrennten Staates und Landes‘ verhindert der türkische Staat eine neue Verfassung. Die Türkei ist dazu gezwungen, ein neues Konzept umzusetzen. Ansonsten sind nicht nur die Kurden die Verlierer. Die Kurden sind vielleicht diejenigen, die in diesem Chaos der größten Gewalt zum Opfer fallen, aber verlieren werden alle Völker in der Türkei. Daher ist eine neue Verfassung äußerst wichtig.

Das Dolmabahçe-Abkommen

Wenn der Rahmen der neuen Verfassung die zehn Artikel des Dolmabahçe-Abkommens von Herrn Öcalan beinhaltet, dann würde sich das kurdische Problem von selbst lösen. Und die Kurden würden ihr Leben mit ihrer eigenen Sprache, Kultur und Identität weiterführen. Dies ist möglich und in vielen Ländern der Welt gang und gäbe. Das Beispiel Rojava ist eine Inspiration dafür. Es gibt dort nicht nur Kurden, sondern viele verschiedene Völker. Gemeinsam bilden sie zusammen ein demokratisches Syrien. Eine neue Verfassung ist daher notwendig, damit der Schmerz ein Ende findet. Notwendig ist auch die Erarbeitung einer Grundlage für die vollkommene Unabhängigkeit der Justiz.“

Der hohe Wert einer demokratischen Politik

Güven führt aus, dass die politische Arbeit ihrer Partei im türkischen Parlament nicht bedeutet, innerhalb der Bevölkerung nicht aktiv zu sein: „Wir legen Wert darauf, auf der Grundlage und im Rahmen einer demokratischen Politik aktiv zu sein. Unser Volk hat Präferenzen und Forderungen. Wir arbeiten daran, innerhalb der Türkei eine demokratische Lösung für die kurdische Frage zu finden. Daher betrachten wir eine demokratische Politik als enorm wichtig. Sowohl in der Vergangenheit mit den inzwischen verbotenen Parteien als auch heute arbeiten wir auf der Ebene einer demokratischen Politik. Jedoch standen wir stets vor Hürden. Wir folgen der Tradition der Parteien HEP, DEP, ÖZDEP, HADEP, DEHAP, DTP und BDP. Alle Parteien, abgesehen von der BDP, sind unter banalen und unrechtmäßigen Vorwänden verboten worden. Je mehr der Weg einer demokratischen Politik verschlossen wurde, umso mehr haben wir in diesem Bereich daraufhin gedrängt, da es zu Kämpfen und Chaos führt, wenn demokratische Politikformen ins Stocken geraten. Einer demokratischen Politik muss soweit wie möglich der Weg offen gehalten werden. Wir als kurdische politische Bewegung beharren darauf. Beispielsweise haben die DEP-Abgeordneten mehr als zehn Jahre im Gefängnis verbracht, aber nach ihrer Entlassung haben sie ihre politische Arbeit am selben Punkt wieder aufgenommen.

Wir sind eine Volksbewegung

Erneut wird versucht, eine demokratische Politik zu verhindern. Im eigentlichen Sinn wird damit den Kurden die folgenden Nachrichten vermittelt: „Wenn ihr gewählt werdet, setzen wir euch wieder ab. Wir erkennen eure Politik nicht an.“ Die Kurden sind nicht alternativlos dagegen. Sie sind nicht vom Parlament und den Rathäusern abhängig. Dies ist ein existentieller Kampf. Wir haben in der Vergangenheit unseren Kampf ohne diese Organe geführt und werden dies weiterhin tun, werden sie aber jetzt ebenfalls nutzen. Die Kurden werden das Mittel der Volksbewegung nutzen und tun es derzeit auch. Die HPD-Abgeordneten sind aktuell diejenigen, die am schlimmsten der Polizeigewalt ausgesetzt sind. Überall werden unsere Abgeordneten hin und her geschubst und beschimpft. Trotz alledem widersetzen sie sich gemeinsam mit der Bevölkerung auf den Straßen.“

Wir werden unsere Errungenschaften schützen

Die DTK-Vorsitzende Leyla Güven weist darauf hin, dass der AKP/MHP-Block den Rausschmiss der Kurden aus dem Parlament fordert: „Beim letzten Mal wurde versucht, die Kurden über die Aberkennung der Immunität aus dem Parlament zu entfernen. Unsere Ko-Vorsitzenden wurden festgenommen. Nun sollen mit Hilfe der Zwangsverwalter unsere gewählten Vertreterinnen und Vertreter aus dem Weg geräumt werden. Das ist das aktuelle Ziel, aber warum sollen wir es ihnen leicht machen? Zudem handelt es sich um ein bei den Wahlen gewonnenes Recht. Wenn die Bevölkerung uns im Parlament nicht mehr möchte und uns zu sich ruft, dann ist uns das ein Befehl. Aber an diesem Punkt sind wir derzeit nicht. Das Volk hat uns eine Aufgabe übertragen und fordert von uns den Kampf. Wir werden unser Recht bis zuletzt nutzen. Wir werden jedoch am notwendigen Punkt einen Schlussstrich zu ziehen wissen. Es wird versucht, uns den Weg der demokratischen Politik als nutzlos aufzuzeigen, nach dem Motto ‚auch wenn wir im Parlament sind oder eine Kommunalverwaltung führen, ist es nutzlos‘. An diesem Punkt dürfen wir niemals ankommen. Das ist von enormer Wichtigkeit, denn es ist unser gewonnenes Recht und wir werden bis zum Schluss dort Widerstand leisten. Unser Volk hat in diesem Punkt ein erhebliches Bewusstsein und ist sehr politisch. Es weiß, wann und wo es Zeit ist, Einhalt zu gebieten. Trotz aller Provokationen der AKP zeigen die Menschen, wann welche Haltung zu zeigen ist.“