Kurdisches Zentrum rügt mediale Berichterstattung in Heilbronn

Das Kurdische Gesellschaftszentrum Heilbronn kritisiert die Berichterstattung über die Verhaftung von Abdullah Ö. in der Lokalpresse als respektlos und falsch. Die „Heilbronner Stimme“ hatte mit „Terrorgruppe PKK auch in Heilbronn aktiv“ getitelt.

Das Kurdische Gesellschaftszentrum Heilbronn kritisiert die Berichterstattung in der Lokalpresse als respektlos und falsch. Die „Heilbronner Stimme“ hatte unter der Überschrift „Terrorgruppe PKK auch in Heilbronn aktiv“ über die Festnahme eines kurdischen Aktivisten am 11. Mai in Sontheim und den Protest dagegen berichtet. In einem Brief an die Redaktion beschreiben Gülistan Ates und Sevket Celik vom kurdisches Gesellschaftszentrum ausführlich ihre Sichtweise auf die Festnahme und den politischen Hintergrund.

Die Stellungnahme wurde am Dienstag persönlich bei der Redaktion abgegeben. „Wir wollten uns diesbezüglich äußern, weil diese Kriminalisierung für uns nicht hinnehmbar ist“, erklärt Gülistan Ates und kündigt an: „Wir werden diese Repressionswelle nicht hinnehmen und auch in den kommenden Tagen und Wochen diesbezüglich Aktionen machen.“ Der Brief wurde gleichzeitig zur Kenntnis per Mail an politische Parteien, Gewerkschaften, den Oberbürgermeister, Menschenrechtsorganisationen und den Gemeinderat geschickt.

Hintergrund sind die nach dem jüngsten Deutschlandbesuch des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu in kurzem Abstand erfolgten Verhaftungen der kurdischen Aktivisten Mirza B. in Nürnberg, Abdullah Ö. in Heilbronn und Mazlum D. in Esslingen. Alle drei werden als angebliche Regionalverantwortliche der PKK kriminalisiert.

 

Was rechtfertigt diese Gewalt?“

„Uns ist wichtig, Ihnen unsere Sichtweise zu diesen Festnahmen mitzuteilen und die Gründe hierfür zu nennen. Denn es ist nicht das erste Mal, dass Aktivisten festgenommen werden, weil sie sich politisch engagieren. Es ist auch nicht das erste Mal, dass überflüssige Razzien gemacht werden“, schreiben Gülistan Ates und Sevket Celik vom kurdisches Gesellschaftszentrum an die Redaktion der Heilbronner Stimme und schildern das brutale Vorgehen der Polizei bei den Festnahmen. In diesem Zusammenhang heißt es weiter in dem Brief:

„Bei diesem Ausmaß an Gewalt stellt sich die Frage, was diese Menschen gemacht haben könnten, um einen derartigen Umgang zu verdienen. Die Festgenommenen werden beschuldigt, Versammlungen organisiert, Vereinsmitglieder zur Teilnahme an Veranstaltungen mobilisiert und Spendenkampagnen durchgeführt zu haben. Individuelle Straftaten werden ihnen nicht vorgeworfen. Sie sollen Mitglieder in einer terroristischen Vereinigung im Ausland gewesen sein und deshalb nach Paragraph 129b Strafgesetzbuch angeklagt werden. 1993 erließ der damalige Bundesinnenminister Kanther die Verbotsverfügung gegen die Betätigung der Arbeiterpartei Kurdistans PKK in Deutschland. 2010 entschied der Bundesgerichtshof eine Strafverfolgung der PKK nach § 129 b mit der Besonderheit, dass hier das Bundesjustizministerium die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt, die weder begründet sein muss noch juristisch überprüfbar ist. Mit anderen Worten: Aktivsten werden festgenommen, weil sie sich an genehmigten, legalen Kundgebungen beteiligen, sie werden festgenommen, weil sie sich gegen Frauenmorde, Faschismus, Rassismus, Ausbeutung, Krieg sowie gegen die Aggressionspolitik Erdogans und seiner Verbündeten in Deutschland, der NATO und der EU positionieren. Sie werden festgenommen, weil sie sich an Spendenkampagnen beteiligen, um bedürftige Menschen finanziell zu unterstützen sowie Neujahresgeschenke für Kinder in den Kriegsgebieten zu kaufen oder Beatmungsgeräte nach Nordsyrien zu verschicken.“

Kurden zahlen den Preis für eine Politik der Heuchelei“

Es stelle sich die Frage, „wie diese Aktivitäten nach deutschem Recht als terroristisch eingestuft werden können. Während NATO-Partner wie die Türkei völkerrechtswidrig in andere Länder einmarschiert, Krieg führt, Kinder tötet, Frauen vergewaltigt und Millionen Menschen vertreibt, werden Friedensaktivist*innen und Demokrat*innen inhaftiert und als Terroristen verurteilt. Die jüngsten Festnahmen sind auch nicht plötzlich erfolgt, sondern stehen in kausalem Zusammenhang mit dem Besuch des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu am 6. Mai bei seinem Amtskollegen Heiko Maas in Berlin. Wir sind - mit vielen anderen Menschen - zutiefst davon überzeugt, dass Schluss damit sein muss, dass Kurdinnen und Kurden den Preis zahlen müssen für diese von wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen geleitete Politik der Heuchelei.“

Respektlos und falsch“

An der Darstellung in besagtem Artikel bemängelt das kurdische Gesellschaftszentrum Heilbronn: „Wir haben uns keine Luft in Sontheim verschafft – wie Sie schreiben, sondern wir haben das Recht auf Versammlung, welches jeder und jedem zusteht, in Anspruch genommen. Die Kundgebung verlief friedlich und auch das Feedback der Sontheimerinnen und Sontheimer war positiv. Wären Sie an dem Tag vor Ort gewesen, hätten Sie selbst Eindrücke sammeln und entsprechend neutral berichten können.“

Die Behauptung, dass die PKK für einen eigenen Staat kämpfe, zeige deutlich, „dass Sie sich nicht darum bemüht haben, die Fakten zu recherchieren. Schon Mitte der 1990er Jahre ist die PKK offiziell von dem Ziel, für einen eigene Staat zu kämpfen, abgerückt.  Vielmehr lehnt sie schon seit langem staatliche Strukturen und Nationalstaaten ab und strebt das Konzept des Demokratischen Konföderalismus an, dessen Grundprinzipien auf Frauenbefreiung, Basisdemokratie, Ökologie beruhen.“

Abdullah Öcalan eine „Galionsfigur“?

Abdullah Öcalan als „Galionsfigur“ zu bezeichnen, sei in den Augen von Kurdinnen und Kurden nicht nur respektlos, sondern auch falsch. Vielmehr sei er Ideengeber für das Projekt, dessen Umsetzung seit 2012 in Rojava/Nordostsyrien umgesetzt werde: „Dieses alternative Gesellschaftsmodell umfasst die Partizipation von Arabern, Eziden, Christen, Assyrer, Kurden und Armenier, Tscherkessen, Tschetschenen.  In den letzten Jahren sind überall basisdemokratische, selbstverwaltete und ökologische Projekte entstanden. Alle Bereiche des Lebens werden von Grund auf neu organisiert.  Und in allen Strukturen organisieren sich insbesondere Frauen autonom. Dieses demokratische System war von Beginn an Angriffsziel von reaktionären sowie autokratischen Kräften. Schließlich wollen wir darauf hinweisen, dass Herr Öcalan seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imralı unter Isolationshaftbedingungen inhaftiert ist und ihm seit über einem Jahr ein Kontakt zu seiner Familie oder seinen Anwält*innen vom türkischen Staat untersagt wird. Diese menschenunwürdige Vorgehensweise wurde bereits mehrmals vom Europäischen Antifolterkomitee (CPT) kritisiert.“

Verdrehte Tatsachen

Die Äußerung des Sprechers des Verfassungsschutzes in besagtem Artikel, die PKK versuche, ihre Ziele in der Türkei, in Nordsyrien, und im Nordirak nach wie vor mithilfe von schweren Gewalttaten, darunter Tötungsdelikten, zu erreichen, sei eine Verdrehung der Tatsachen:

„Es ist das NATO-Mitglied Türkei, das völkerrechtswidrig in andere Staaten einmarschiert und hierbei mit dem „Islamischen Staat“ zusammenarbeitet. Über 300.000 Menschen wurden vertrieben, kurdische Politikerinnen wie Hevrin Xelef wurde im Oktober 2019 gezielt von türkischen Milizen barbarisch ermordet. Täglich finden Militärangriffe statt. Nicht zuletzt auch in Europa, wo ein Agent des türkischen Geheimdienstes MIT, der lange Zeit in Deutschland gelebt hat, am 9. Januar 2013 in Paris drei kurdische Aktivistinnen, Sakine Cansiz, Leyla Saylemez und Fidan Doğan, erschossen hat“, so das Kurdische Gesellschaftszentrum Heilbronn.

Gefahrenlage in Deutschland

Zur Gefahrenlage in Deutschland heißt es in dem Brief: „Zum Schluss möchten wir noch darauf hinweisen, dass es in Deutschland geschätzt 18 500 türkische Faschisten, besser bekannt als ,Graue Wölfe', gibt. Diese Zahl stammt nicht von uns, sondern basiert auf einer Studie des in Berlin ansässigen American Jewish Committee (AJC), die im April der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist. In ihr wird offenbar, dass die nationalistisch-faschistische Partei MHP ideologisch mit den Grauen Wölfen verbunden ist. Die MHP wiederum befindet sich in einer Allianz mit der islamistischen Regierungspartei AKP.

Diese Kräfte, gemeinsam mit tausenden türkischen Geheimdienstmitarbeitern in Deutschland, bilden eine reale Gefahr für alle Kritiker*innen des Erdoğan-Regimes, kurdische sowie linke türkische Aktivist*innen und auch deutsche Politiker*innen.  Zu ihren Methoden gehören Drohbriefe, Morddrohungen, Einschüchterungen, Observationen von Personen und Vereinen bis hin zu tätlichen Angriffen auf Menschen.  Der Bundesregierung und der deutschen Justiz sind diese Fakten bekannt.

Doch so grenzenlos der staatliche Apparat gegen Kurdinnen und Kurden vorgeht, so untätig verhält er sich gegenüber diesen faschistischen Kräften, die auch von ihrem Hass auf Juden und Jüdinnen keinen Hehl machen. So waren sie auf vielen Kundgebungen erkennbar präsent, zum Beispiel auf der Kundgebung ,Free Palestina' am 16. Mai, die sie moderiert und bei der sie ihre Symbole und ihr rechtes Gedankengut bekundet haben.

Wir finden, dass es an der Zeit ist, dass diese Politik korrigiert wird und die politisch Verantwortlichen mit den in Deutschland aktiven politischen kurdischen Strukturen in einen Dialog treten, anstatt sie zu kriminalisieren und sie von der übrigen Gesellschaft zu isolieren. Dass der Blick auf die kurdische Freiheitsbewegung auch ein völlig anderer sein kann, hat die rechtskräftige Entscheidung des höchsten belgischen Gerichts vom Januar des vergangenen Jahres gezeigt. Der Kassationshof ist nach einem jahrelangen Verfahren zu der Entscheidung gelangt, dass es sich bei der PKK nicht um eine terroristische Organisation handelt, sondern um eine bewaffnete Konfliktpartei im Sinne des Völkerrechts. Zu dem Punkt, dass die PKK auf der EU-Terrorliste steht, möchten wir anmerken, dass diesbezüglich eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg anhängig ist.

Wir haben uns für diese ausführliche Stellungnahme entschieden, weil wir der Auffassung sind, dass sich gerade Journalistinnen und Journalisten dazu verpflichtet fühlen sollten, Hintergründe zu durchleuchten, einseitige Berichterstattungen zu vermeiden, sich ernsthaft zu bemühen, Argumente von ALLEN Seiten einzuholen. Auch Kurdinnen und Kurden muss das Recht eingestanden werden, ihre Sicht und Perspektiven darstellen zu können. Auch sie haben eine Vergangenheit, Gegenwart und hoffentlich eine Zukunft, die nicht geprägt davon ist, wahlweise als ,kriminell' oder ,terroristisch' dargestellt zu werden. Wir wären zu einer öffentlich geführten Diskussion über alle angesprochenen Probleme und Konflikte, aber auch über Perspektiven eines freundschaftlichen, menschlichen und gleichberechtigten Umgangs miteinander bereit“, so Gülistan Ates und Sevket Celik vom Kurdischen Gesellschaftszentrum Heilbronn.