„Kurden werden angegriffen, wenn der Staat in Bedrängnis ist“

Nach den gestrigen Massenfestnahmen in der Türkei befinden sich fünfzig Betroffene weiterhin im Gewahrsam der Antiterrorpolizei. Rechtsanwältin Nagehan Avçil und ihr Kollege Veysi Eski erläutern die Hintergründe des Verfahrens.

Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen den „Demokratischen Gesellschaftskongress“ (KCD) sind am Freitag in Amed (türk. Diyarbakir), Istanbul, Izmir und Semsûr (Adiyaman) 72 Personen festgenommen worden, darunter Rechtsanwält*innen, Ärzt*innen und Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Auf der Fahndungsliste stehen insgesamt 101 Personen. Von den 24 festgenommenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten sind 21 am Freitagabend wieder freigelassen worden. Die anderen befinden sich weiterhin in Polizeigewahrsam, darunter auch Bünyamin Şeker, der Ko-Vorsitzender des Freiheitlichen Juristenvereins ÖHD.

Die jüngste Repressionswelle gegen die kurdische Zivilgesellschaft hat breiten Protest hervorgerufen. Rechtsanwältin Nagehan Avçil und ihr Kollege Veysi Eski, beide ebenfalls ÖHD-Mitglieder, weisen darauf hin, dass die türkische Regierung immer dann organisierte Kurdinnen und Kurden angreift, wenn sie sich selbst in Bedrängnis befindet.

Nagehan Avçil bezeichnet die Operation als Teil des politischen Vernichtungsfeldzugs gegen die kurdische Opposition: „Daher hat uns die Operation auch nicht weiter überrascht. Sie ist nach den Verlautbarungen der Regierung über eine angebliche Justizreform erfolgt. Nach jeder Reformankündigung wird eine Unterdrückungsmethode gegen kurdische Politiker und Juristen angewandt. Das ist auch jetzt wieder geschehen.“

Die Juristenvereinigung ÖHD ist vor vier Jahren per Dekret verboten worden. Die Rechtsanwältin erläutert: „Auch damals ist davon ausgegangen worden, dass die kurdischen Politiker und Juristen zum Schweigen gebracht werden können. Je stärker die Angriffe des faschistischen Systems ausfallen, desto stärker wird jedoch auch unser Kampf. Wir werden uns dem Faschismus niemals beugen, unser Verein besteht weiterhin. Wir sind weiterhin solidarisch mit allen revolutionären Juristinnen und Juristen, ebenso zeigen sich oppositionelle Juristen solidarisch mit dem ÖHD. Wir werden gewinnen, weil wir gemeinsam gegen den Faschismus kämpfen.“

Für Rechtsanwalt Veysi Eski handelt es sich bei den jüngsten Festnahmen um den Versuch der Regierung, ihre eigenen Probleme durch einen Angriff auf die Kurdinnen und Kurden zu bewältigen: „Der Staat denkt jedes Mal, wenn er in Bedrängnis ist, dass er durch einen Angriff auf die Kurden weiterkommt. Da irrt er sich. Solange die Kurden keine Rechte bekommen, kann auch keine Demokratisierung im Land stattfinden. Der Kampf des kurdischen Volkes und der kurdischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte wird auf jeden Fall erfolgreich sein.“

Die Festnahmen vom Freitag sind damit begründet worden, dass die Namen der Betroffenen auf beschlagnahmten Speichermedien gefunden worden sind. Eski erklärt dazu, dass damit keine Festnahme gerechtfertigt werden kann: „Anwälte sind Verteidiger und ihre Namen können überall auftauchen. Die ungerechtfertigten Festnahmen sind Teil der Kriegspolitik. Ebenso wie das kurdische Volk werden jedoch auch die kurdischen Anwältinnen und Anwälte weiter Widerstand leisten.“

Um irgendein Problem in der Türkei lösen zu können, sei Frieden die erste Voraussetzung, hält der Rechtsanwalt fest: „Und Voraussetzung für den Frieden ist eine Lösung der kurdischen Frage. Nur dann können die Menschenrechte Geltung finden. Andernfalls sind alle laufenden Debatten pure Luftschlägerei.“

Hintergrund: Was will die Regierung vom KCD?

Der Demokratische Gesellschaftskongress (Kongreya Civaka Demokratîk / KCD) fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie – Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der KCD besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden, und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb des Dachverbands wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.

Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen

Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.

Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit KCD beim Lösungsprozess

Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Aktuell sieht die türkische Führung den KCD als sogenannten Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).