Unter dem Titel „Geteilt und doch geeint? - Chancen und Perspektiven zur Lösung der «kurdischen Frage» im Nahen Osten” hat im Bundestag eine von der Fraktion DIE LINKE und der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) ausgerichtete Konferenz stattgefunden. Den Anstoß dieser Zusammenkunft gab die bis heute ungelöste kurdische Frage, welche die vier wichtigen mittelöstlichen Staaten Iran, Türkei, Syrien und Irak umfasst, sowie die antagonistische Interessenlage der verschiedenen kurdischen Bewegungen.
Die vier zentralistischen Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien sind das Ergebnis westlicher Verteilungskämpfe und willkürlicher Grenzziehung im imperialen Interesse. Das kurdische Volk als eines der ältesten und das zahlenmäßig drittgrößte Volk des Mittleren Ostens ist in diesen Staaten jahrzehntelang als eine Minderheit ohne Rechte und Anerkennung fremdbestimmt worden. Mehrere kurdische Volksaufstände wurden blutig niedergeschlagen.
Lösung der kurdischen Frage Schlüsselelement für Demokratisierung des Mittleren Ostens
Auf die staatliche Unterdrückungspolitik hat die kurdische Bevölkerung immer wieder reagiert und verschiedene Formen und Akteure des gewaltfreien und bewaffneten Widerstands hervorgebracht. Während lange Zeit das Ziel eines eigenen Nationalstaats verfolgt wurde, wird heute angestrebt, das Selbstbestimmungsrecht der kurdischen Bevölkerung auch innerhalb der territorialen Einheit der vier Zentralstaaten zu verwirklichen. Inzwischen hat die kurdische Frage beziehungsweise der Kampf der Kurd*innen um ihre Selbstbestimmung auch die Funktion eines Schlüsselelements für die demokratische Neugestaltung und Stabilisierung der gesamten Region angenommen.
Mit dem Ziel, verschiedenen kurdischen Bewegungen und Expert*innen ein Forum zu bieten, von dem Impulse für eine gemeinsame politisch-diplomatische Lösung der kurdischen Frage ausgehen, diskutierten am Freitag zahlreiche Persönlichkeiten über die Hintergründe des Konflikts und suchten Antworten auf Fragen, wie die kurdische Frage gelöst werden kann, welche unterschiedlichen Ansätze es gibt, welche Rolle die beteiligten Mächte spielen und wohin die deutsche Kurdenpolitik steuert.
Die Eröffnungsrede hielt die Abgeordnete und entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion Helin Evrim Sommer, auf deren Initiative hin die Konferenz organisiert wurde. Nach einer kurzen Ansprache der stellvertretenden RLS-Direktorin Gabriele Kickut wurden Botschaften von der renommierten Menschenrechtsanwältin Eren Keskin und der Friedensaktivistin Ela Gandhi an die Konferenz abgespielt.
Ismail Küpeli: Das eigentliche Problem sind die Nationalstaaten
Anschließend lieferte der Politikwissenschaftler und Historiker Ismail Küpeli unter dem Titel „Wie alles begann: Ursachen und Hintergründe der kurdischen Frage im Nahen Osten“ eine historische Einordnung der kurdischen Frage. Mit einem Exkurs in das Aufkommen des Problems gegen Ende des Ersten Weltkrieges machte Küpeli deutlich, dass der Konflikt Teil des chaotischen Prozesses der Formation von Nationalstaaten im Mittleren Osten ist. Küpeli fasste in einem knappen Zeitfenster die Geschehnisse in der Türkei sowie die Geschichte der Kurd*innen ab 1920 bis heute zusammen und führte vor Augen, das innerhalb kurzer Zeit das Existenzrecht der Kurden zugunsten einer Politik zurückgetreten ist, die den Interessen der zentralistischen Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien freien Lauf ließ. Der Historiker führte die aktuellen Entwicklungen, die die Kurden betreffen, mit den Folgen des Nationalstaatensystems, das die europäischen Siegermächte damals aus den Trümmern des osmanischen Vielvölkerreichs errichteten, in Zusammenhang und sprach sich gegen die Definition einer „kurdischen Frage“ oder eines „Problems“ aus. Das Problem seien vielmehr die Nationalstaaten, die den Kurden ihre Rechte vorenthalten.
Claudia Roth: Nur Waffen an die Kurden reichen nicht aus
In einer anschließenden Diskussionsrunde mit der Grünenpolitikerin Claudia Roth und dem außenpolitischen Sprecher der Linksfraktion Stefan Liebich ging es um die deutsche „Kurdenpolitik” und die Rüstungsexporte der Bundesrepublik. Roth machte auf die Verleugnungspolitik des türkischen Staates gegenüber der kurdischen Bevölkerung aufmerksam und wies auf die Notwendigkeit der Anerkennung aller demokratischen, politischen und kulturellen Rechte der Kurden hin. Zu den Entwicklungen in Südkurdistan krisitierte Roth, dass die Bundesregierung den demokratischen Prozess nach Saddam Hussein unzureichend unterstützt habe. Es reiche nicht aus, nur Waffen in die Region zu liefern. Stattdessen sollten demokratische Strukturen unterstützt werden, um die Demokratie in der autonomen Region Kurdistan innerhalb eines starken und föderalen Irak zu festigen. Die Grünenpolitikerin unterstrich, dass die Türkei in Nord- und Ostsyrien gegen das Völkerrecht verstößt und forderte ein Ende der Rüstungsexporte an das Regime in Ankara. Außerdem mahnte Roth, dass das EU-Türkei-Abkommen Europa erpressbar mache und zu Lasten der Flüchtlinge gehe.
Stefan Liebich: Perspektivwechsel in Bezug auf Kurden
Der Linkspolitiker Stefan Liebich forderte einen Perspektivwechsel in Deutschland in Bezug auf die Kurden, der die Aufhebung des Verbots der PKK und Symboliken der kurdischen Befreiungsbewegung beinhalten sollte, und einen neuen Diskurs im Umgang mit den Beziehungen zur Türkei. „Ein Staat der völkerrechtswidrige Angriffskriege führt, darf ab sofort keine deutschen Waffen mehr bekommen, auch wenn er ein NATO-Partner ist”, sagte Liebich, und kritisierte die widersprüchliche Kurdenpolitik der Bundesregierung. Alle Parteien seien sich einig darüber gewesen, dass der türkische Staat in Efrîn das Völkerrecht bricht, dennoch habe Deutschland keine klare Haltung gezeigt. Außerdem sagte Liebich, dass der sogenannte „Islamische Staat” (IS) nicht allein das Problem der Kurden sei, sondern als globales Problem gemeinsam bekämpft werden müsse.
Hemin Hawrami: Unabhängigkeit Kurdistans vorangiges Ziel der PDK
Nach einer Pause folgte unter dem Titel „Zwischen gescheiterter Unabhängigkeit und regionaler Autonomie Kurdistans/Nordiraks” eine weitere Diskussion, an der neben dem Vizepräsidenten des südkurdischen Regionalparlaments Hemin Hawrami (PDK) auch Volker Perthes, Direktor der Stiftung für Wissenschaft und Politik, teilnahm. Die Runde vergegenwärtige die ideologischen Differenzen zwischen den kurdischen Bewegungen von Nordkurdistan (Türkei) bis Rojava/Nordsyrien und in Südkurdistan (Nordirak). Die PDK sieht die Lösung des Problems in einem kurdischen Nationalstaat, signalisierte Hawrami: „Die PDK strebt trotz des gescheiterten Unabhängigkeitsreferendums weiterhin die Unabhängigkeit Kurdistans an”. Perthes entgegnete dieser Aussage: „Ich rate aus heutiger Sicht zu einer Ausweitung der regionalen Autonomie Irakisch-Kurdistans. Auch der Irak braucht die Kurden als Stabilitätsfaktor.”
Anita Starosta: Herkunftsländer sollen IS-Mitglieder zurückholen
Den Höhepunkt der Konferenz bildete der Redebeitrag von Ilham Ehmed, der Ko-Vorsitzenden des Demokratischen Syrienrats (MSD). An der Gesprächsrunde „Zwischen bedrohter Selbstverwaltung Nordostsyriens und Restauration des Assad-Regimes” beteiligte sich unter anderem auch Anita Starosta, Referentin für Türkei, Syrien und Irak bei der Menschenrechtsorganisation Medico International. Starosta, die erst vor kurzem wieder aus Nordsyrien zurückkehrte, berichtete über die aktuelle Lage in Rojava, insbesondere über die humanitäre Situation und die Folgen der Angriffe der türkischen Besatzungstruppen und ihren dschihadistischen Verbündeten. Die Historikerin kritisierte mit scharfen Worten, dass die nordostsyrische Autonomieverwaltung aufgrund fehlender internationaler Unterstützung mit der Versorgung von 12.000 Frauen und Kindern des IS mit internationaler Staatsbürgerschaft auf sich allein gestellt ist und forderte die Herkunftsländer auf, sie zurückzuholen. „Es gibt in Nordostsyrien eine Million Binnenflüchtlinge und es kommen aus Idlib weitere an. Aber die Vereinten Nationen bestehen darauf, Hilfsgelder nur an die syrische Regierung auszuzahlen, die diese Gelder nicht an die kurdische Autonomieverwaltung weitergibt”, sagte Starosta weiter.
Ilham Ehmed: Wir wollen eine demokratische Autonomie innerhalb Syriens
Ilham Ehmed erklärte, dass die kurdische Frage nicht nur in der Türkei, im Iran und dem Irak Unterdrückung und Ausbeutung sowie Aufstände und Konflikte umfasste. „Auch in Syrien wurden die Kurden gewaltsam unterdrückt”, sagte die Politikerin und erinnerte an die Assimillierungspolitik des Assad-Regimes, die weiterhin andauere. Ehmed sprach jüngere Äußerungen Baschar al-Assads an, wonach in Syrien eine kurdische Frage nicht existiere, und sagte: „Diese Aussagen machen einmal mehr deutlich, dass die Haltung in Bezug auf die Kurden gleich geblieben ist und das Regime uns unverändert des Separatismus bezichtigt.” Diese Haltung führe laut Ehmed nur dazu, dass sich die Syrien-Krise weiter verschärfe, und weise keine Unterschiede zu der Mentalität auf, die die türkische Besatzung der nordsyrischen Städte Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) absegnete. Die Kurden streben keine Teilung Syriens an, sondern wollen eine demokratische Autonomie innerhalb des syrischen Staates, sagte Ehmed.
Selbstverwaltung muss anerkannt werden
Die MSD-Vorsitzende unterstrich, dass die Kurden in Syrien in den letzten Jahren den einzigartigen Versuch unternommen haben, inmitten eines brutalen Krieges eine demokratische Alternative zu etablieren. Sie erinnerte an die Verluste Rojavas im Kampf gegen den IS. Ehmed sagte, dass die Verteidigung gemeinsamer menschlicher Werte und einer freien Welt die Region über 11.000 Gefallene und mehr als 22.000 Kriegsversehrte kostete, und wies darauf hin, dass sich der IS neu formiert. „Die IS-Kinder in den Flüchtlingslagern sind jetzt fünf Jahre alt, aber bald werden sie zehn, fünfzehn Jahre alt und eine neue Generation des IS sein.” Frauen, die sich in den für IS-Angehörige betriebenen Camps in Nordsyrien gegen die IS-Ideologie auflehnen, müssten rehabilitiert werden, forderte Ehmed. Andere, die an der Idee eines Kalifats festhalten, müssten vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Dazu bräuchte es ein Gericht in Rojava. „Die internationale Staatengemeinschaft muss hier zusammenarbeiten und eine Lösung finden.”
Einen weiteren Schwerpunkt legte Ehmed auf den türkischen Vernichtungsfeldzug gegen die Bevölkerung und Natur in den besetzten Gebieten Nordsyriens. Während Assad den Kurden die Existenz verweigert, werden in Efrîn Olivenbäume abgeholzt und die gesamte Welt schaut zu, sagte Ehmed. Die Zeit, die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens anzuerkennen, sei schon längst gekommen. „Wir sind jedoch mit einer gegenteiligen Situation konfrontiert. Für eine baldige Lösung der Krise muss die Selbstverwaltung an den politischen Verhandlungen beteiligt werden”, forderte die Politikerin.
Will Deutschland eine radikal-islamistische Türkei oder eine demokratische?
Ehmed äußerte sich positiv über die Bestrebungen verschiedener kurdischer Parteien und Bewegungen, eine innerkurdische Einheit aufzubauen. Sie drückte ihre Hoffnung aus, dass sich demnächst entsprechende praktische Schritte entwickeln. Deutschland ermahnte Ehmed, zur Lösung der kurdischen Frage beizutragen, auch wenn dies Mut bräuchte. Die Politikerin legte der Bundesregierung nahe, darüber nachzudenken, ob sie mit einem radikal-islamistischen türkischen Staat auf der sicheren Seite wäre oder doch nicht eher mit einer demokratisierten Türkei. Die Pläne Berlins, finanzielle Hilfen für die Türkei für den Bau von Flüchtlingsunterkünften in Nordsyrien zur Verfügung zu stellen, bezeichnete Ehmed als einen Tabubruch und wies darauf hin, dass rund 80 Prozent der türkisch besetzten Gebiete in der Region bereits demografisch zugunsten Ankaras verändert wurden. Sollte die Bundesregierung der Türkei tatsächlich Mittel zur Verfügung stellen, um Flüchtlingsunterkünfte in der Besatzungszone zu bauen, sollte sie wissen, dass dort keine Flüchtlinge, sondern Dschihadisten ansiedelt werden. Das hätte zu bedeuten, dass sich die Bundesrepublik finanziell an einer ethnischen Vertreibung der angestammten Bevölkerung beteiligt.
Mithat Sancar: Tore Europas für Flüchtlinge öffnen
Den Abschluss der Konferenz bildete die Diskussion „Erdogans Türkei zwischen Repressionen und Kampf für Demokratie” mit dem Ko-Vorsitzenden der HDP Mithat Sancar, dem CHP-Abgeordneten Sezgin Tanrikulu und Dilek Kurban von der Berliner Hertie School.
Sancar unterstrich, dass es keinen erfolgreichen Demokratisierungsprozess in der Türkei geben könne, solange die kurdische Frage ungelöst bleibt. Er sagte, dass sich die HDP auch weiterhin für eine demokratische Türkei einsetzen wird. Sancar begrüßte ebenfalls die Bestrebungen für eine kurdische Einheit und schlug gemeinsame Mechanismen der verschiedenen kurdischen Strömungen vor, damit sich die Beziehung der Bewegungen untereinander festigen könne. Die HDP werde alle Aktivitäten für einen innerkurdischen Frieden weiterhin unterstützen.
Zum Flüchtlingsdeal zwischen der Türkei und der EU sagte Sancar, dass dieser in vielerlei Hinsicht kritikwürdig sei und Europa erpressbar mache. Die HDP habe die Bundesregierung davor gewarnt, dass sich Brüssel mit Ankara auf dieses Abkommen einlässt. Deutschland habe die Position vertreten, dass ein Rückgang der Flüchtlingszahlen rechtsextremen und populistischen Bewegungen die Luft nehmen würde. Die HDP habe jedoch eindringlich darauf hingewiesen, dass das Abkommen zu einer Verschärfung des Krieges und zu einem hohen Flüchtlingsandrang aus Syrien führen werde. „Leider hatten wir recht”, sagte Sancar im Hinblick zur aktuellen Lage an den Außengrenzen der EU. Die Zeit sei gekommen, die Tore Europas für Schutzsuchende und Migranten zu öffnen und ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. „Wir wollen unsere Menschlichkeit bewahren. Deshalb müssen wir verhindern, dass Flüchtlinge Verhandlungsmasse von Erpressung werden.”