Kommentar: Kurdischer Hintergrund impliziert keine Deutungshoheit

Der Hamburger Sozialwissenschaftler Ramazan Mendanlioglu kommentiert einen Artikel aus der taz, der sich, so der Titel und Anspruch des Textes, mit Projektionen deutscher Linken und Rechten auf Rojava und die Kurden beschäftigt.

Ein kurdischer Hintergrund impliziert nicht die Deutungshoheit über Kurdistan

Im Folgenden erfolgt ein Kommentar zu einem Artikel, welcher am 11. September in der Tageszeitung (taz) erschienen ist und sich, so der Titel und Anspruch des Textes, mit Projektionen deutscher Linken und Rechten auf Rojava und die Kurden beschäftigt. Der Artikel der Künstlerin Cemile Sahin ist durchzogen von politischer Unkenntnis und Undifferenziertheit und verdient deshalb eigentlich keine Beachtung. Gleichzeitig ist er arrogant und respektlos gegenüber vielen Menschen, weswegen er nicht zuletzt aufgrund der massenmedialen Verbreitung unkommentiert gelassen werden kann und sollte.

Fassen wir den tendenziell rassistischen und nationalistischen Artikel zusammen: Er suggeriert ein Bild von blinden, naiven und opportunistischen deutschen politischen Menschen, welche die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Kurdistan nicht kennen und deren - hier betrifft es nur die deutsche Linke – Solidarität mit Rojava und den Kurd*innen wesentlich durch selbstbezogene „antiimperialistische“ Motive bedingt ist. Die in Deutschland geborene Autorin hat einen kurdischen Migrationshintergrund und ist anscheinend der Ansicht, sie hätte damit das Recht, als Kurdin über „die Deutschen“ und „die deutsche Linke“ zu urteilen und mehr über Kurdistan zu wissen. Dass das Interesse und die Solidarität der vielen deutschen Linken durch intensive Lektüre und Recherche zum Thema, soziale Beziehungen sowie gemeinsamer politischer Arbeit mit kurdischen Vereinen und Organisationen gekennzeichnet ist oder sein könnte, sei mal dahingestellt. Möglicherweise ist es die in der Tendenz rassistische Strategie der bürgerlichen taz, eine „kurdische“ Autorin für die Delegitimierung der Solidarität vieler linker Menschen und Gruppen in Deutschland mit dem demokratischen Aufbruch der kurdischen Bewegung im Mittleren Osten zu instrumentalisieren. Aber zurück zum Text.

Für die Autorin „hoppeln“ Menschen aus Kurdistan und Deutschland „nicht freiwillig durch die Berge“, denn es gehe ums „Überleben“. Sie will sagen: die Kurden sind gezwungen zu kämpfen und das ist kein Kinderspiel, „deutsche Linke“! Genauer meint sie und die taz vermutlich junge Internationalist*innen aus Deutschland, die sich seit dem in den letzten Jahren intensiver werdenden Krieg in Kurdistan an den dortigen politischen und militärischen Kämpfen beteiligen. Die Todesnachricht vom Potsdamer Internationalisten Michael Panser – gefallen im Dezember letzten Jahres – und zuvor von der im April diesen Jahres gefallenen Sarah Handelmann bewegten nicht nur Genossinnen und Genossen, sondern auch Freunde, Familie, Bekannte und alle anderen Menschen, die davon Kenntnis nahmen. Und sicherlich wird ihr Tod das Leben anderer nachhaltig beeinflussen; diese reale Wirkung implizieren die Parolen „Die Gefallenen sterben nicht“ und „Şehîd namirin“. Möglicherweise soll der Artikel als ein ideologisches Kampfmittel der kapitalistisch-konformistischen, vermeintlich linksliberalen taz dieser Wirkung entgegenwirken.

Mit der oben erwähnten Respektlosigkeit der Autorin ist gemeint, dass sie die neben der authentischen politischen Solidarität vieler Menschen die überlegte, zwar schwerwiegende, aber freie Entscheidung von Michael und Sarah und anderer als „Freizeitkommunismus“ und „Pfadfindercamping“ simplifiziert. Gesellschaftliche und soziale Destruktion in Deutschland oder politische Revolution und Emanzipation in Kurdistan werden nicht als mögliche Motive in Betracht gezogen, stattdessen wird die freie und reflektierte Entscheidung dieser Menschen mit „linken Projektionen“ und „Revolutionsromantik“ ins Lachhafte gezogen und dabei zugleich von den Verhältnissen in Deutschland und Kurdistan abgelenkt.

Die Autorin schreibt: „Sehr wild soll es zugehen in Kurdistan. Schwarzhaarige Frauen mit geflochtenen Zöpfen hüpfen mit Kalaschnikows durch die Berge. Sie singen und tanzen am Lagerfeuer. Manchmal schießen sie. Manchmal sterben sie. Aber egal, Hauptsache, Revolution! Die deutsche Linke klatscht Beifall.“

Wenn – nicht nur – kurdische Frauen sich in einer ultra-patriarchalen Region in jeder Hinsicht – geistig, organisatorisch, politisch und mit Kalaschnikows – bewaffnen, dann ist das, da hat die Autorin recht, beeindruckend. Aber diese Frauen beeindrucken nicht nur „die deutsche Linke“, sondern sie beeinträchtigen seit knapp vier Jahrzehnten auch die traditionell-patriarchalische kurdische Gesellschaft mittels eines theoretischen wie praktischen Feminismus. Ihre Existenz und politische Praxis beeinflussen die kurdische Gesellschaft und die Geschlechterbeziehungen auf emanzipatorische und egalitäre Weise. Aber um den feministisch-demokratischen Vorstoß geht es der Autorin gar nicht, sondern um die Diffamierung der Solidarität und politischen Arbeit vieler Linken in Deutschland im Kontext von der politischen (R)evolution in Kurdistan.

Dann schreibt sie ein oder zwei Absätze weiter:

„Im Gegensatz dazu finden sie die Kurdische Autonomieregion Irak ganz schlimm, weil kapitalistisch. Gibt sogar Shoppingmalls und Coca-Cola. Die deutsche Linke ist entsetzt, im United State of Kurdistan geht man nur noch zum Picknick in die Berge. Plötzlich sind die Kurden keine Opfer mehr.“

Im Gegensatz zu der Autorin knüpfen viele Linke in Deutschland ihre Solidarität nicht an ethnischen, sondern an politischen, d. h. an libertären und egalitären Kriterien. Die kurdische Autonomieregion im Irak hat sich unter der jahrzehntelangen Herrschaft der Barzani-Familie seit im Zuge der kapitalistischen Öffnung von einer Gesellschaft mit kommunalen und selbstversorgenden Elementen hin zu einer wirtschaftlich abhängigen, landwirtschaftlich und auch sonst kaum produzierenden, sozialökonomisch stark ungleichen und geistig nationalistischen Gesellschaft entwickelt, in der Vetternwirtschaft, Korruption sowie Zusammenarbeit mit Feinden der Freiheit und Selbstbestimmung von Kurden und (Gesamt-)Kurdistans zur Normalität gehören. Dass dort türkische und andere Großkonzerne expandieren und den Anschein einer modernen und freien Gesellschaft erwecken, lenkt von den tiefgreifenden Problemen und der gesellschaftlichen wie politischen Krise in Südkurdistan ab.

Von den dortigen patriarchalen Verhältnissen und Zuständen, der Unterdrückung der Frauen, der Genitalverstümmelung junger Frauen, der quasi nicht-existenten Rolle und Bedeutung von Frauen in der öffentlichen und politischen Sphäre ganz zu schweigen. Ganz sicher solidarisieren sich die politisch bewussten deutschen Linken nicht mit den verantwortlichen Akteuren solcher Verhältnisse.

Weiter schreibt die Autorin zwar von der „Komplexität“ der „politischen Dynamiken und Konflikte“ und wirft der von ihr vereinheitlichten „deutschen Linken“ ein „unkritisches“ Denken und Handeln, das sich auf Egozentrik und romantische Vorstellungen stützt, vor. Sie selbst ist aber anscheinend nicht in der Lage, zwischen den beiden grundverschiedenen politischen Verhältnissen und Konzepten in Süd- und Westkurdistan (Rojava) zu unterscheiden, da sie die gesellschaftliche Souveränität und Selbstverwaltung in Rojava als „unfreies Kurdistan“ definiert, weil da ja noch der syrische Staat sei. Der Anspruch und Ansatz Rojavas, eine normativ wie strukturell plurale Gesellschaft jenseits von Nationalismus, und eine dezentral-konföderale politische und öffentliche Verwaltung vonseiten der Basis der Gesellschaft jenseits vom zentralistischen Nationalstaat, sind der Autorin wohl nicht bekannt.

Zu guter Letzt sieht die Autorin von den von ihr selbst zunächst unterschiedenen politischen Linien und Akteuren in Kurdistan ab, nämlich dem nationalistischen Strang um den Barzani-Clan im Nordirak und dem demokratisch-konföderalen Strang um die kurdische Bewegung in Rojava (und Nordkurdistan/Türkei), und haut den Standardsatz der europäisch-kolonialistischen  „wissenschaftlichen“ Literatur über Kurden raus, der stets bemüht ist, die Kurden als eine „politisch, religiös und gesellschaftlich heterogene Ethnie im Nahen Osten“ zu definieren, weil damit impliziert werden soll, dass ihre Heterogenität einer nationalen Einheit und damit der Selbstbestimmung im Wege steht. Das wiederum beinhaltet: Die Kurden selbst sind entscheidend verantwortlich für die Unterdrückung und Fremdbestimmung (durch Nationalstaaten der mittelöstlichen Peripherien des westlichen Zentrums). So die bürgerliche Wissenschaft und der Journalismus liberalistischer Medien. Abgesehen davon, dass jede „Ethnie“, um in der Sprache des Artikels zu bleiben, in sich vielfältig und heterogen ist, macht sich die Autorin diesen Satz zu eigen, um „der deutschen Linken“ die Fähigkeit der Recherche und Kritik abzusprechen, weil sie ja nur ihre eigenen „antiimperialistischen“ und „kommunistischen“ Wünsche und Vorstellungen auf die Kurdinnen und Kurden projiziert. In Rojava wird nicht nur eine Realität jenseits von Nationalismus und Nationalstaat, sondern auch eine am Gemeinwohl orientierte und ökologische Wirtschaftsweise versucht. Diese progressiven Perspektiven sind es, die die Verbundenheit junger Menschen aus Deutschland entwickeln lässt, nicht „die Kurden“.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, ein kurdischer Hintergrund macht weder eine Kurdistan-Expertin oder einen Experten noch eine Kennerin oder einen Kenner der diversen Linken in Deutschland aus jemandem. Schließlich wünsche ich mir von der Autorin, dass sie den Revolutionär*innen aus Deutschland, die im Kampf gegen reaktionäre und rückständige Kräfte um eine bessere Welt und ein würdiges Leben in Deutschland, Kurdistan und überall auf der Welt gefallen sind und sich verewigt haben, mehr Respekt und Ehrfurcht entgegenbringt.

*Ramazan Mendanlioglu ist Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter der Akademie der Weltreligionen an der Universität Hamburg.