Kommentar: Der türkische Staat zerfällt

In einem Land, in dem der Begriff „Terror“ synonym benutzt wird für Kurd:innen und jeglicher politischer Widerstand mit Repression bestraft wird, ist die Forderung an jede Person, eine Position einzunehmen.

Seit Tagen brennen Wälder im Mittelmeerraum in der Türkei und in Nordkurdistan. Während in Kurdistan Waldbrände teilweise vorsätzlich von der Armee entfacht und Löschversuche der Bevölkerung verhindert werden, geht der Staat polizeilich und juristisch gegen Hilfsaufrufe in den sozialen Medien vor. Es gibt nicht ausreichend Löschflugzeuge, dafür aber besitzt die Türkei stolze 270 F16-Kampfjets, die täglich Kurdistan bombardieren. Die Auswirkungen der aktuellen Brände auf die Natur sind fatal, Tiere und Menschen sterben, es regnet Asche vom Himmel, doch alle bestehenden staatlichen Ressourcen finden ihren Einsatz im Krieg gegen die Kurd:innen. Die Türkei darf demnach scheinbar vollständig in Flammen aufgehen, solange Kurdistan weiterhin Ziel von türkischen Militäroffensiven bleibt.

Während die Bevölkerung seit Tagen um Hilfe fleht, bewirft Präsident Erdogan die Menschen in den Brandregionen jedoch nur mit Tee-Packungen, propagiert leere Versprechen und verschanzt sich in seinem 1150-Zimmer-Palast. Währenddessen betreibt die Regierung eine neue Hetzkampagne gegen Kurd:innen und nutzt die Waldbrände als Propagandazug gegen die PKK. Wie auf Knopfdruck werden für jedes Unglück in der Türkei die Kurd:innen verantwortlich gemacht. In den letzten Tagen reihten sich aus diesem Grund mehrere Lynchattacken von türkischen Faschist:innen gegen Kurd:innen aneinander.

Was wir nun beobachten, ist ein aufs Töten ausgerichtetes System, welches langsam aber sicher in sich zusammenfällt. Die Türkei ist nur eines von vielen Paradebeispielen, welches dem Leitfaden des Kapitalismus Gehorsam leistet und in praktischer Form zeigt, was es bedeutet, die Menschheit zu entmenschlichen. Die türkische Regierung scheint nun offiziell auch damit begonnen zu haben, Krieg gegen ihre eigene Bevölkerung zu führen. Es fühlt sich so an, wie als würde Erdogan die gesamte Türkei und Nordkurdistan in Brand setzen wollen, da er sein bitteres Ende kommen sieht. Nach dem Motto „Wenn ich gehe, dann kommt ihr alle mit!“ schlägt der tollwütige Herrscher um sich und scheint alle mit sich in einen Abgrund reißen zu wollen.

Kurd:innen als kollektives Angriffsziel

In weiten Teilen der Bevölkerung in der Türkei herrscht weiterhin die Einstellung: „Was mir nicht geschieht, tut mir nicht weh.“ Ein geringer Teil erkennt jedoch, dass sich die Politik des aktuellen Regimes seit Jahrzehnten vor allem gegen Kurd:innen und andere marginalisierte Bevölkerungsgruppen richtet. Doch während Erdogan rasant an Beliebtheit verliert und auch von etlichen Personen der Öffentlichkeit scharf ins Visier genommen wird, sprechen viele Kritiker:innen hauptsächlich von Schäden, die Erdogans AKP für die türkische Öffentlichkeit verursacht hat. Nicht ist die Rede von dem brutalen und vielschichtigen Vernichtungskrieg gegen Kurd:innen, der seit Jahrzehnten ausgetragen wird. Der innertürkische Widerstand richtet sich gegen die Beschädigung der eigenen Interessen und nicht gegen den Staat, der einem Millionenvolk, den Kurd:innen, seit eh und je ihre Existenz aberkennt und sie zur Zielscheibe unzähliger Kriegsmethoden und Verbrechen macht. Was sich damit zeigt, ist eine pantürkische Aggression sowie eine antidemokratische Grundhaltung, systematische Kurdenfeindlichkeit und zeitgleiche Ignoranz, die sich tief im Kern der Türkei festgesetzt haben.

Antikurdischer Rassismus hat Kontinuität

Dass ein ungesundes System früher oder später auch diejenigen einholen wird, die es bis dato mit schallendem Applaus bejubelten, scheint nun die bittere türkische Realität zu sein. Schwere Wirtschaftskrisen, Repressionen gegen Kritiker:innen, Vernichtung von Grundrechten, Hungersnot, massive Polizeigewalt, die steigende Femizid-Rate, ständige Gewaltdelikte sowie die andauernden Brände überschatten den Alltag in der Türkei.

Doch weiterhin ist die Bemühung in der Türkei groß, die eigentlichen Belange durch faschistisch motivierte Angriffe auf Kurd:innen und ihre systematische Ausgrenzung zu kompensieren. Was vereint, ist nicht der Widerstand gegen ein bestialisches Ausbeutersystem, sondern in erster Linie weiterhin eine antikurdische und antifeministische Grundhaltung sowie die Kriminalisierung eines berechtigten Befreiungskampfes.

Antikurdischer Rassismus hat in der Türkei Kontinuität. Er zeigt sich in vielen Facetten und in jeder Instanz des alltäglichen Lebens. Dieser beginnt bei der jahrzehntelangen und gezielten Massakrierung von Kurd:innen, ihrer politischen Verfolgung, ihrer Masseninhaftierung, ihrer Zwangsumsiedlung, bei dem Verbot der kurdischen Sprache, bei gezielten Angriffen auf kurdische Frauenstrukturen sowie bei dem Verbotsverfahren der linken Sammelpartei HDP. Er zeigt sich zudem bei der Inhaftierung und jahrzehntelangen Isolation der politischen Schlüsselfigur Abdullah Öcalan, bei völkerrechtswidrigen Besatzungsangriffen, kulturellem Raub sowie ökologischem und wirtschaftlichem Krieg. Es handelt sich um einen systematischen und genozidalen Vernichtungskrieg, auf dessen Grundlage der türkische Staat seine Republik und Einheit ausgerufen hat.

Veränderung braucht Mut

In einem Land, in dem der Begriff „Terror“ synonym benutzt wird für Kurd:innen und jeglicher politischer Widerstand mit Repression bestraft wird, ist die Forderung an jede Person, eine Position einzunehmen. Nur ein perspektivloser Mensch kann als ein wehrloser Mensch betrachtet werden. Dieses Phänomen können wir auf jeden Ort der Welt übertragen, wo sich immer mehr persönliche Belange und Wut gegen ein System anstauen, auf die der einzelne Mensch kaum noch Antworten zu finden meint. Diese Perspektivlosigkeit endet schließlich oftmals nicht mit der Entwicklung eines revolutionären Charakters und der entscheidenden Organisierung, sondern zu oft mit der Entwicklung eines gefährlichen Nationalstolzes und bizarren Verschwörungstheorien. Ein beklemmendes Ohnmachtsgefühl ist dann nicht weit entfernt. In diesem Prozess geht es nun darum, mit ganzer Kraft an einer fortschrittlichen Organisiertheit festzuhalten, nicht wehrlos zuzusehen und nicht zum Täter zu werden.