Zur Lage in Rojava und Syrien
Der Sturz von Baschar al-Assad wurde in Syrien gefeiert. Doch die Zukunft der Bevölkerung in den Gebieten der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) bleibt ungewiss. Die Türkei, deren Einfluss auf die neuen Machthaber von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) nicht gering ist, will die Autonomieverwaltung vom Wiederaufbauprozess Syriens ausschließen und sie endgültig zu Fall bringen. Ahmet Karamus, Ko-Vorsitzender des Nationalkongress Kurdistan (KNK), drängt mit Blick auf die Pläne Ankaras die kurdischen politischen Akteur:innen in der Region darauf, ihre Widersprüche zu überwinden und die nationale Einheit zu stärken.
Türkei will Rojava zerschlagen
Die Kurd:innen haben mit ihrem Rojava-Projekt eine Alternative aufgebaut, das auf kommunaler Selbstverwaltung, Autonomie der Frauen, gerechter Ökologie und angemessenem Schutz sowie Repräsentation der Minderheiten basiert und sich als demokratisches und säkulares Modell für ein neues Syrien sieht, betonte Karamus im Gespräch mit ANF. „Die Türkei versucht dieses demokratische Projekt zu beseitigen und hat alle ihre militärischen und diplomatischen Mittel mobilisiert, um zu verhindern, dass die kurdisch dominierte Selbstverwaltung wichtige Weichen im Neugestaltungsprozess in Syrien stellt. Sie will nicht, dass die Kurd:innen Teil einer neuen Regierung werden oder wichtige Positionen in der Staatsverwaltung erhalten. Dafür geht die Türkei sogar so weit, Kurd:innen in Nord- und Ostsyrien ihre Identität abzusprechen.“
Karamus betonte, dass die Zerstrittenheit der politischen Akteur:innen in Kurdistan überwunden werden müsse, um Rojava aus dem Klammergriff der türkischen Aggression zu befreien und die eigenen Forderungen durchzusetzen. „Die einzige Alternative für die Kurd:innen in der Region ist es, gemeinsam zu handeln. Die politischen Differenzen müssen beiseitegelegt werden, denn die Annäherung zwischen den politischen Kräften ist existenziell für das kurdische Volk. Sie müssen mit einer vereinten Stimme in Damaskus sprechen.“
Überwindung der Differenzen mit ENKS
Karamus verwies auf den Kurdischen Nationalrat (ENKS), mit dem die politischen Differenzen in der DAANES am größten seien. Die Organisation agierte seit der Rojava-Revolution auf verschiedenen Ebenen gegen die Selbstverwaltung und verhinderte Versuche, die kurdischen Akteur:innen zusammenbringen. „Dennoch sind wir um Gespräche bemüht, damit die Bedingungen für eine gemeinsame kurdische Bewegungen geschafft werden.“ In diesem Kontext sei auch ein Treffen zwischen Mazlum Abdi, dem Generalkommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), und Mesûd Barzanî, dem Vorsitzenden der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) von großer Bedeutung.
Kritik an Barzanî
Bei dem Treffen Mitte Januar in Hewlêr (Erbil) hatte ein Meinungsaustausch über die Frage stattgefunden, wie ein allgemeiner Rahmen für den Umgang der kurdischen Kräfte mit der neuen Situation in Syrien aussehen könnte. Karamus bewertet diesen Dialog als wichtig im Hinblick auf das Engagement für eine nationale Einheit der Kurd:innen. Er kritisierte aber, dass Barzanî direkt im Nachgang zu dem Treffen die Angriffe der Türkei gegen Kurd:innen mit der Existenz der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begründet habe. „In einer Sendung bei Shams TV stellte er das Bestehen der PKK als Vorwand für Angriffe gegen das kurdische Volk dar. Der türkische Staat greift die Kurd:innen aber nicht erst seit der Gründung der PKK an.“
Genozidal motivierte Vernichtungsangriffe
Karamus attestierte dem türkischen Staat eine spezifische antikurdische Ausrichtung, die gleichlaufend sei mit seiner Expansionspolitik. „Der Grund, warum die Angriffe auf die Kurd:innen bis heute andauern, ist die Tatsache, dass die Türkei das kurdische Volk als Schwierigkeit ansieht. Sie will die Kurd:innen aus dem Weg räumen und wird von einer genozidalen Motivation angetrieben. Die Angriffe auf den Tişrîn-Damm, bei denen bis heute dutzende Zivilist:innen getötet worden sind, geschehen auf dieser Grundlage. Das gilt auch für Südkurdistan. In Nordkurdistan sind die Zwangsverwaltung von DEM-regierten Städten und die Festnahme- und Verhaftungswellen Teil dieser Spezialkriegsstrategie.”
Niemand sollte sich vom türkischen Staat täuschen lassen
Mit Verweis auf einen Besuch des türkischen Außenministers Hakan Fidan im Irak am vergangenen Wochenende erklärte Karamus, die Türkei versuche weiterhin die Staaten der Region in ihre antikurdische Politik einzubeziehen. „Das kurdische Volk und seine Freund:innen durschauen die Politik und die Ziele des türkischen Staates. Jeder Mensch mit Gewissen sollte sich gegen diese Angriffe der Türkei aussprechen. Niemand sollte sich durch den Spezialkrieg der Türkei täuschen lassen“, forderte er.