Istanbuler Anwaltskammer geht auf die Barrikaden

Tausende Anwältinnen und Anwälte haben in Istanbul gegen das Gesetzesvorhaben protestiert, mit dem die Autonomie der Anwaltskammern unterlaufen werden soll. „Wir kapitulieren nicht vor dem Klima der Angst“, erklärte Kammerpräsident Durakoğlu.

Die Anwaltskammer Istanbul hat vor dem Justizgebäude Çağlayan gegen den von der Regierungskoalition MHP/CHP vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des Anwaltsrechts und des Wahlsystems der Anwaltskammern protestiert. Tausende Anwältinnen und Anwälte machten unter einem großen Polizeiaufgebot deutlich: „Die Verteidigung lässt sich nicht zum Schweigen bringen.“

Das Gesetzesvorhaben würde alternative Vereinigungen zulassen, die dann Mitglied im Dachverband der auf Provinzebene organisierten Anwaltskammern der Türkei (Türkiye Barolar Birliği, TBB) werden können. Damit würde das Stimmengewicht der größten Kammern wie etwa in Istanbul, Izmir und Ankara, die zu den unbequemen Kritikern Erdoğans zählen, geschwächt werden. Die Anwaltskammern wären unter staatlicher Kontrolle.

„Wir sind Anwälte, wir leisten keinen Gehorsam“

An der Kundgebung in Çağlayan nahmen auch zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter von Parteien, Gewerkschaften und demokratischen Massenorganisationen teil. Der Istanbuler Kammerpräsident Mehmet Durakoğlu bezeichnete die Kundgebung in einer Rede als gemeinsamen Widerstand gegen Ankara. Achtzig Anwaltskammern aus der Türkei hätten die Regierungsparteien dazu aufgefordert, den umstrittenen Gesetzentwurf zurückzuziehen, sagte Durakoğlu und wies auf die Probleme von Verteidigern hin: „Uns werden Akten vorenthalten, wir bekommen keine Einsicht. In diesem Land müssen Anwälte sich dafür rechtfertigen, wenn sie ein Mandat übernehmen und bestimmte Personen verteidigen. Anwältinnen und Anwälte sind im Hungerstreik, weil sie ein faires Verfahren fordern. Ankara muss wissen, dass die Anwaltskammern nicht schweigen werden. Wir sind Anwälte, wir leisten keinen Gehorsam. Wir kapitulieren nicht vor dem Klima der Angst. Wir werden immer an die Demokratie glauben.“

Zentrale Großkundgebung in Ankara angekündigt

In Ankara wird am 3. Juli eine zentrale Großkundgebung der Anwaltskammern stattfinden. Auslöser des Gesetzesvorhabens war eine Erklärung der Anwaltskammer Ankara, in der scharfe Kritik an den homophoben Äußerungen des Vorsitzenden der staatlichen Religionsbehörde Diyanet formuliert wurde. Bei einer Freitagspredigt zum Auftakt des Fastenmonats Ramadan Ende April brandmarkte der Kleriker Ali Erbaş Ehebruch und Homosexualität als Ursachen für Krankheiten und als unislamisch. Als Beispiel verwies er auf die Ausbreitung von HIV/Aids und führte auch den Ausbruch des Coronavirus auf Homosexualität und das Zusammenleben unverheirateter Paare zurück.

Die Anwaltskammer in Ankara warf Erbaş, der in der Vergangenheit schon Frauenfeinde in Schutz genommen und Kindesmissbrauch ignoriert hatte, daraufhin vor, Menschen herabzuwürdigen und zum Ziel von Angriffen zu machen. „Es sollte niemanden verwundern, wenn Ali Erbaş bei seiner nächsten Rede das Volk dazu auffordern würde, auf öffentlichen Plätzen Frauen als Hexen zu verbrennen“, hieß es außerdem in dem Text. Erdoğan stellte sich hinter seinen homophoben Diyanet-Chef und bewertete die Kritik der Anwaltsvereinigung als „staatsfeindlich“. Danach erteilte er seiner Partei die Anweisung für einen Gesetzesentwurf, um die Anwaltskammern auf Linie zu bringen. Gegen die Kammer in Ankara wurde zudem ein Ermittlungsverfahren wegen „Herabwürdigung religiöser Werte“ eingeleitet.

„Freiheit für die Verteidigung“

Anfang Juni forderten 79 Rechtsanwaltskammern in einer gemeinsamen Erklärung die Regierung auf, das umstrittene Gesetzesvorhaben zurückzuziehen und zumindest ihre Türen für einen Dialog und Verhandlungen über die geplanten Änderungen offenzuhalten. Andernfalls werde es zu Protesten kommen. Erdoğan zeigte in gewohnt überheblicher Manier keine Reaktion. Daraufhin veranstalteten die Kammern einen Sternmarsch auf Ankara unter dem Motto „Freiheit für die Verteidigung“. Die Aktion stieß landesweit auf breite Zustimmung, in vielen Städten wurden die Anwältinnen und Anwälte von großen Menschenmengen empfangen. Der Protestmarsch wurde mehrfach von der Polizei angehalten und angegriffen.