Unzählige Menschen sind am Sonntag auf dem Bağcılar-Platz im gleichnamigen Stadtbezirk der westtürkischen Metropole Istanbul zusammengekommen, um sich an einem „Volkstreffen“ der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti, YSP) zu beteiligen. So nennt die Partei, die sich als Alternative für die ganze Türkei sieht und für einen politischen Wechsel und Aufbruch in der Türkei kämpft, ihre Wahlkampfveranstaltungen. In zwei Wochen, am 14. Mai, werden in der Türkei ein neues Parlament und ein neuer Präsident gewählt.
„Kartoffeln, Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan“
Mehrere Zehntausend recken ihre Köpfe gen Himmel, wedeln weiße Fahnen mit dem Symbol der Partei – ein Baum, dessen violetter Stamm eine menschliche Gestalt bildet, einer Krone bestehend aus einzelnen, grünen Blättern und einer gelben Sonne, die mitten in der Krone den Kopf der menschlichen Gestalt bildet – und rufen Parolen. „Jin, Jiyan, Azadî“, „Die Grüne Linkspartei ist Hoffnung – Die Hoffnung steht aufrecht“ und „Kartoffeln, Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan“ – ein inzwischen gängiger Slogan gegen Inflation und Preisexplosionen und deren politischen Verursacher. Dazwischen stechen große Transparente heraus, etwa mit der Aufschrift „Kapitulation führt zu Verrat, Widerstand führt zum Sieg“. Auch ein Spruch des unlängst in Amed (tr. Diyarbakır) verhafteten kurdischen Journalisten Abdurrahman Gök ist auf einem Banner zu lesen: „Keine Sorge, der Faschismus wird besiegt werden.“
Bayhan: Die Regierung stürzen, das Land aus der Dunkelheit befreien
Dann jubelt die Menge, als die Istanbuler Ko-Sprecher:innen auf die Bühne treten und die Menschen begrüßen. Es folgen Redebeiträge. Zuerst spricht Iskender Bayhan, Kandidat für die Parlamentswahl für den Wahlkreis Istanbul 3. Er kritisiert zunächst die „organisierte Verantwortungslosigkeit“ der türkischen Regierung beim Umgang mit der verheerenden Erdbeben-Serie im Februar und warf dem amtierenden Staatschef Recep Tayyip Erdoğan vor, die Türkei spätestens mit der Einführung des Ein-Mann-Regimes in ein autoritär und faschistisch regiertes Land verwandelt zu haben. „Doch die Tage der Herrschaft eines Mannes sind gezählt“, sagte Bayhan. „Am 14. Mai wird das Ende dieses Systems besiegelt. Mit der Niederlage der Herrschenden wird unsere Heimat zu neuem Leben erweckt. Heimat, das bedeutet für uns, dass den Werktätigen ihre Rechte zugesprochen werden, dass Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit verwirklicht werden. Heimat bedeutet für uns geschwisterliche Beziehungen zu allen Nachbarländern. Dafür werden wir am 14. Mai die amtierende Regierung stürzen und das Land aus der Dunkelheit befreien. Um im Licht der Freiheit den Weg für eine lebenswerte und menschenwürdige Zukunft in einem Land zu gehen, das gemeinsame Heimat aller Völker ist.“
Pervin Buldan macht das Victory-Zeichen
Otlu: Das Regime hat Angst
Çiçek Otlu, die ebenfalls in Istanbul für die YSP kandidiert, verurteilt die Massenfestnahmen und „Anti-Terror-Operationen“ gegen die kurdische und demokratische Opposition sowie Zivilgesellschaft im Vorfeld der Wahlen. Ein Blick auf die Fakten zeige, dass es sich bei dem von Innenministerium angeordneten Maßnahmen um „ein von Angst geleitetes und durchsichtiges politisches Manöver“ handelt, die YSP zu schwächen. Ob Presseleute, Rechtsanwält:innen, Parteimitglieder oder Aktivist:innen – die Namen nahezu aller Betroffenen stünden auf den Listen mit Personen, die am 14. Mai als Wahlbeobachter:innen in den Wahllokalen fungieren sollen, um „Unstimmigkeiten“ und Manipulation zu verhindern.
Önder: 14. Mai soll „Tag der Befreiung“ werden
Der Filmemacher und Ex-Parlamentsabgeordnete Sırrı Süreyya Önder, der im Istanbuler Wahlkreis 1 für die YSP kandidiert, sagt mit Blick auf die Menge auf dem gut 55.000 Quadratmeter großen Bağcılar-Platz, der aus allen Nähten zu platzen droht: „Dass wir heute alle hier beisammen sein können, haben wir jenen zu verdanken, die mit ihrer Freiheit oder ihrem Leben bezahlt haben, um unseren Völkern ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. Lasst sie uns würdigen, zollen wir ihnen mit Beifall unseren Respekt.“ Kaum sind die Worte aus dem Mund, da bebt auch schon die Erde unter den Füßen der applaudierenden Menge.
Önder spricht vor einem Fahnenmeer
Önder bezeichnet den 14. Mai als „Tag der Befreiung“. Es sei das Datum, an dem die „Früchte unserer Kämpfe, unserer harten Arbeit“ geerntet werden müssten. „Schande über unser Haupt, wenn sich am Abend des 14. Mai nicht das Tor zur Freiheit und zu einer demokratischen Republik öffnet. Dieser Tag wird auch die Befreiung der jüngeren Generationen ebnen, deren Zukunft geraubt wurde; derjenigen, die ins Exil flüchten mussten; den Arbeitslosen und Bedürftigen, die noch nicht mal einen Stein besitzen, den sie in ihren Wärmestuben zubereiten könnten. Wir befreien Gesellschaft, Gerechtigkeit, Grundrechte und Ökonomie aus dem Klammergriff der Herrschenden.“ Kritische Worte richtet Önder mit Charme und Schärfe an die Auslandskoordination der YSP. Viele stimmberechtigte Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Ausland hätten Wahllokale ohne zu votieren wieder verlassen, weil sie auf den Wahlzetteln das Logo der HDP vermissten. Es scheine noch nicht überall angekommen zu sein, dass die HDP bedingt durch das drohende Parteiverbot unter dem Banner der YSP zu den Wahlen antritt. „Ihr müsst von Tür zu Tür, von Café zu Café, von Straße zu Straße gehen und die Grüne Linkspartei vorstellen“, fordert Önder und wünscht in kurdischer Sprache viel Erfolg: „An Serkeftin, an Serkeftin!“
Buldan: Stimmt für den Baum!
Die HDP-Vorsitzende Pervin Buldan appelliert in ihrer Rede besonders an junge Menschen, die erstmals wählen werden: „Die Stimmen unserer jungen Freundinnen und Freunde werden ihre Zukunft bestimmen. Demokratie bedeutet mitreden, mitentscheiden, die Gesellschaft mitzugestalten und das politische Leben mitbestimmen zu können. Ob dieses Land in naher Zukunft demokratisiert werden kann, hängt vom Ausgang der Wahlen am 14. Mai ab. Es liegt an euch, an uns allen: Geht wählen und stimmt für den Baum der Grünen Linkspartei – damit überall Bäume sprießen und diesem Land neues Leben einhauchen.“